Klaus Pfeiffer & Gabriele Wilz: Editorial zum Themenheft
“Pflegende Angehörige”

Beratung und Psychotherapie für pflegende Angehörige

In Deutschland werden 2,59 Millionen Menschen zu Hause gepflegt. Der Großteil der Pflege und Betreuung erfolgt durch ungefähr fünf Millionen Angehörige oder andere nahestehende Personen, davon knapp die Hälfte in der Rolle als Hauptpflegepersonen. Diese Zahlen, die mit der demografischen Entwicklung zukünftig eine weitere Dynamik erfahren werden, unterstreichen die gesamtgesellschaftliche Bedeutung pflegender Angehöriger in der ambulanten Pflege.
   Sowohl in der Partnerschaft als auch generationenübergreifend ist die Auseinandersetzung mit dem Altersabbau, den Krankheiten und dem Tod naher Angehöriger in der Regel ein bedeutsames Lebensthema, das mit der Übernahme von Pflege- und Betreuungsaufgaben nochmals an Aktualität gewinnt. Die Pflege eines Angehörigen kann aus ganz unterschiedlichen Beweggründen, freiwillig oder unfreiwillig, von heute auf morgen oder eher schleichend erfolgen. Sie kann als sinngebend und wertvoll, ambivalent oder einfach nur als belastend erlebt werden. Die Belastungen können vielfältig sein: zeitlich, körperlich, finanziell und oft auch emotional. Pflegende müssen mit Gefühlen von Wut, Trauer, Ekel oder Schuld umgehen. Sie sehen sich durch die Pflege mit ihrer eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit konfrontiert. Sie müssen neue Rollen übernehmen oder erfahren ungeahnte Dynamiken mit dem Gepflegten aufgrund der pflegebedingten Wiederannäherung. Hinzu kommt, dass der Pflegebedarf sich mit der Zeit meist erhöht und dadurch wiederkehrende, oft als krisenhaft erlebte Anpassungsprozesse durchgestanden werden müssen.
   Empirische Forschungsdaten zeigen, dass psychosoziale Interventionen pflegende Angehörige wirkungsvoll unterstützen können. Aus über 200 Interventionsstudien mit pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz konnten als wichtige übergeordnete Wirkfaktoren (Gitlin u. Hodgson 2015) die aktive Einbeziehung des Pflegenden in den Beratungsprozess, die Anpassung der Intervention an die Bedürfnisse der Pflegenden sowie die Adressierung unterschiedlicher Belastungs- und Bedürfnisbereiche gefunden werden. All diese Punkte werden bislang in vielen niederschwelligen Beratungssettings der Versorgung leider nicht oder nicht in systematischer Weise berücksichtigt. Darüber hinaus sollten Interventionen in diesem Feld langfristig im Sinne einer Begleitung sowie variabel im Hinblick auf Dosierung, Intensität und Fokus sein. Für Pflegende, die aufgrund der Pflegesituation nur mit hohem Aufwand das Haus verlassen können, wären auch flexible Formate der Beratung (z.B. telefonisch, internetbasiert) wünschenswert.
   Wenngleich die Pflege eines Angehörigen kein Prädiktor für eine erhöhte Prävalenz psychischer Störungen ist, kann das Belastungserleben pflegender Angehöriger dennoch so ausgeprägt sein, dass eine psychotherapeutische Intervention sinnvoll oder sogar notwendig ist. Dies gilt insbesondere für solche Pflegende, bei denen emotionale Themen, ein problematischer Umgang mit der Pflegesituation oder dem Pflegebedürftigen im Vordergrund stehen. Die Förderung des psychischen und körperlichen Wohlbefindens pflegender Angehöriger ist nicht zuletzt auch für die von ihnen Gepflegten von großer Bedeutung.
   Ein weiterer wichtiger Aspekt in der psychotherapeutischen Arbeit mit pflegenden Angehörigen sind die vielen ganz realen alltäglichen Herausforderungen, für die Lösungen gefunden werden müssen (z.B. pflegebedingte körperliche oder finanzielle Belastungen, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, Sicherstellung der medizinischen und pflegerischen Versorgung, frustrierende Erfahrungen mit Leistungsträgern und -erbringern). Daher ist es in der Psychotherapie mit pflegenden Angehörigen häufig wichtig, sowohl Unterstützungsangebote und Leistungen im Kontext Pflege als auch entsprechende (pflege-)spezifische Beratungen (z.B. Pflegeberatung, Fachberatung z.B. im Bereich Demenz, Pflegekurse) zu berücksichtigen.
   Eine von uns durchgeführte Onlineumfrage zeigt, dass pflegende Angehörige Psychotherapie in Anspruch nehmen (Wilz u. Pfeiffer 2017). Etwa zwei Drittel der knapp 100 befragten Verhaltenstherapeuten gaben bei dieser Befragung an, dass sich zum Erhebungszeitpunkt zwischen einem und 15 Klienten in ihrer Behandlung befanden, die zeitgleich mindestens einen Angehörigen pflegten. Für ein Drittel dieser Klienten mit unterschiedlichen Diagnosen war die Pflege eines Angehörigen der Hauptgrund für die Inanspruchnahme der Psychotherapie.
   Trotz der Relevanz dieser Zielgruppe in der Psychotherapie sind Interventionskonzepte zur psychotherapeutischen Unterstützung von pflegenden Angehörigen bisher nur in geringem Ausmaß in der Aus- und Fortbildung von Psychotherapie verankert. Gleiches gilt für die Vermittlung grundlegender Kenntnisse zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten für pflegende Angehörige.
   Mit diesem Themenheft geben wir einen Überblick sowohl zur Situation als auch zur psychotherapeutischen Arbeit mit pflegenden Angehörigen. Es werden Studien und Interventionsansätze vorgestellt, die flexible Beratungsintensitäten und alternative Settings (telefonisch, internetbasiert) anbieten. Ergänzend werden einige spezifische Fragestellungen zur Ressourcenaktivierung und Beziehungsgestaltung aufgegriffen und an Fallbeispielen veranschaulicht.

Literatur

Gitlin LN, Hodgson N (2015) Caregivers as Therapeutic Agents in Dementia Care: The Context of Caregiving and the Evidence Base for Interventions. In: Gaugler JE, Kane RL (Hg) (2015) Familiy Caregiving in the New Normal. London, San Diego, Waltham, Oxford (Elsevier Inc.) 305–353.
Wilz G, Pfeiffer K (2017) Psychotherapie mit älteren pflegenden Angehörigen. Der Nervenarzt 88(11): 1246–1251.