Martin Teising & Reinhard Lindner: Editorial zum Themenheft
“Altern — Befürchtungen und Hoffnungen im Dialog zwischen Jung und Alt ”

Die Beziehungen zwischen Jungen und Alten werden seit jeher als eine Geschichte existenzieller Konflikte beschrieben. Um dieses Feld auszuleuchten, beschäftigte sich das 31. Symposium der Arbeitsgruppe »Psychoanalyse und Altern« im Dezember 2019 in Kassel mit Befürchtungen und Hoffnungen, die das Alter mit sich bringt, und zwar im Dialog zwischen Jung und Alt. Beiträge dieser Tagung finden sich in diesem Heft.
   Mit dem Altern verbundene Hoffnungen und Befürchtungen älter werdender Menschen nehmen in der Mythologie und in der Weltliteratur einen zentralen Platz ein, so auch in dem für die Psychoanalyse so wichtigen Ödipusmythos. Laios, der Vater des Ödipus, sehnte sich nach einem Kind. Zugleich fürchtete er es von Anfang an. Er hatte als Lehrer seine Schüler missbraucht und dafür mit langer Kinderlosigkeit gebüßt. Als er endlich seinen Sohn Ödipus bekam, wurde ihm vorhergesagt, dass dieser ihn eines Tages erschlagen werde. Das konnte er nicht in einem metaphorischen Sinne verstehen, nämlich dass die Kinder eines Tages die Eltern verdrängen werden. Er konnte die natürliche Generationenfolge nicht anerkennen, beschützte seinen Sohn nicht wie ein Vater, sondern setzte ihn dem Tode aus. Bekanntlich überlebte Ödipus bei Pflegeeltern. Als er den ihm unbekannten Vater schließlich traf, nahm das Schicksal seinen Lauf.
   Die Perspektive junger Menschen auf das Alter wird von der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum (2019) aufgegriffen. Sie beschreibt das intergenerative Verhältnis zwischen Jung und Alt und die in ihm enthaltenen basalen Hoffnungen und Befürchtungen. Das Erleben völliger Abhängigkeit macht das Kind zornig, egozentrisch und gierig; Nussbaum spricht gar drastisch vom »Terroristen«, als das manche Eltern das in der Nacht immer wieder schreiende Kleinkind vorübergehend empfinden können. Das Kind muss aber fürchten, eben diejenigen zu verletzen oder gar zu töten, von denen es so abhängig ist.

»Wir lernen im Laufe der Kindheit erst nach und nach, uns nicht wie Könige zu benehmen, sondern die Bedürfnisse und Interessen der anderen zu respektieren. Aber die angstauslösende Hilflosigkeit, die den Säugling zum Terror veranlasst, ist überaus machtvoll, sie begleitet uns ein ganzes Leben lang, und besonders in der Todesangst zeigt sie, wie stark sie uns beherrschen kann. […] Es braucht eine Weile, bis ein Kind begreift, dass die Eltern nicht seine Sklaven sind. Wir lernen in einer demokratischen Kultur, unserem ersten Narzissmus Grenzen zu setzen, uns für andere zu öffnen und füreinander Mitgefühl und Respekt zu empfinden […]. In meinen Augen ist eine Gesellschaft erstrebenswert, in der die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass ihre eigene Zukunft in den Händen der anderen liegt, und in der sie zugeben, dass sie von Geburt an bedürftig und verletzlich sind« (Nussbaum im Interview; DIE ZEIT 2019).

Die Gebundenheit zwischen den Generationen manifestiert sich in sehr unterschiedlichen Dynamiken, die zwar verborgen erscheinen, jedoch in ihren Auswirkungen auf das Zusammenleben ihre Wirkung entfalten. Sloterdijk (1996) spricht in diesem Zusammenhang die Schuld an, die sich verbindend zwischen die Generationen stellt: Sie erscheint als Zeugungsschuld und Schöpfungsschuld, Austragungsschuld, Stillschuld, Nährungsschuld und Erziehungsschuld. Mit dieser Schuld sind die Nachkommen an die Vorleistungen der älteren Generationen gebunden. Dies ist ein interessanter Befund, der der Bindungstheorie zugerechnet werden könnte. Im höheren Lebensalter kehrt sich das Bindungsgefälle um. Die Alten sind auf die Jungen angewiesen, insbesondere wenn sie bei bisher selbstbestimmten basalen Aktivitäten des täglichen Lebens eingeschränkt sind und die Hilfe Jüngerer benötigen. Für Jüngere ist es oft eine große emotionale Herausforderung, die damit verbundenen Aufgaben anzunehmen und zu erfüllen. In den Leistungen der Jüngeren kommt die dankbar-schuldhafte Bindung der Kinder an ihre Vorfahren ebenso zum Ausdruck wie im Rentenversicherungssystem. In diesem System wird die Beziehung zwischen Jung und Alt in den kommenden Jahren vor besondere Herausforderungen gestellt. Die Coronakrise spitzt diese Herausforderung dramatisch zu (FAZ 2020).
   Sloterdijk kommt zu einer recht solipsistischen, Getrenntheit und Unverbundenheit beschreibenden Diagnose der Beziehungen von Jungen und Alten unserer Zeit: Individuum sein hieße heute, das Ausleben oder Zu-Ende-Leben zu seiner Sache zu machen und Leben insgesamt als Endverbrauch von Lebenschancen zu inszenieren, ohne Rücksicht auf nachfolgende Generationen. Demgegenüber erleben wir derzeit ein breites kritisches Umdenken. Es tritt immer mehr ins Bewusstsein, dass wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben.  Greta Thunberg hat uns bewusst gemacht, welche Veränderungsprozesse innerhalb kurzer Zeit bewirkt werden können. In der populären Netflix-Serie After Life von Ricky Gervais hieß es, dass eine reife Gesellschaft sich dadurch auszeichne, dass in ihr alte Menschen Bäume pflanzen, von denen sie genau wissen, dass sie niemals mehr in ihrem Schatten werden sitzen können.
   In der Regel überleben Kinder diejenigen, denen sie ihr Leben mit allen Sonnen- und Schattenseiten verdanken und die ihnen ihre Welt vererben. Aufgrund generationaler Verbundenheit werden zu über 80% der pflegebedürftigen alten Menschen in Familien gepflegt, vornehmlich von Töchtern und Schwiegertöchtern. In ihren Leistungen kommt die dankbar-schuldhafte Bindung der Kinder an ihre Vorfahren ebenso zum Ausdruck wie im Rentenversicherungssystem. In der Coronakrise rücken diese intergenerativen Beziehungen ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Von offizieller Seite wird vor dem Kontakt der Großeltern zu ihren Enkelkindern gewarnt, was zu Engpässen bei der Kinderbetreuung führt. Die mittlere Generation nahm viele Einschränkungen und Belastungen in Kauf, um ihre Eltern zu schützen. Diese fühlen sich ihrerseits teilweise isoliert und abgehängt. In Pflegeheimen dürfen die Alten aus Besorgnis nicht mehr besucht werden, nicht wenige verstarben vereinsamt. Die Besorgnis der mittleren Generation paarte sich mancherorts aber auch mit unbewussten Befreiungswünschen von den Alten. Im kritischen Zwischenruf von Eva-Maria Kessler in diesem Heft  wird auf diese Problematik näher eingegangen.
   Das Symposium »Psychoanalyse und Altern«, das sich dem Dialog zwischen Jung und Alt widmete, war auch selber Schauplatz intergenerationeller Begegnungen und Konflikte. Traditionell wird das Symposium von Psychotherapeut*innen mit einem mittleren Alter von 57 Jahren besucht. Erstmals war nun aber eine Gruppe von Studierenden der Sozialen Arbeit und der Psychologie unter den Teilnehmern, die sich auch aktiv (siehe Lindner et al. in diesem Heft) beteiligte. Hinzu kamen jüngere Referent*innen (z.B. Klos sowie Kallenbach-Kaminski u. Labuhn in diesem Heft), die mit ihren Beiträgen Perspektiven Jüngerer darstellten. Der Dialog von Jung und Alt wirkte auf den ersten Augenschein unkompliziert. Wie schwierig eine Verständigung ist, wurde nur unterschwellig deutlich. Gerade diejenigen, die ihre Jugend, aber auch ihre 20er und 30er Jahre zwischen 1965 und 1985 erlebt hatten, waren beinahe besorgt, dass offener Konflikt, offene Kritik der Jungen an den Alten und umgekehrt nicht auftrat. »Die Alten« hatten Sorge, z.B. wegen ihres Beitrags zur Klimakatastrophe zur Rechenschaft gezogen zu werden. Hochachtung und Interesse standen jedoch im Vordergrund, nur unterschwellig wurde der psychodynamische Diskussionsstil als Skurrilität beschrieben. Dass hier auch ein deutliches Befremden, eine Ferne und Abschottung der Älteren gegen die Jungen wahrgenommen wurde, war offensichtlich, auch wenn nicht offen artikuliert.
   Der Dialog zwischen Jung und Alt bleibt ein Bemühen, ein Versuchen, dem Scheitern und Gelingen gleichermaßen innewohnen. Es bedarf der Foren der Begegnung, des Austausches, des Befremdens und des Verstehens, dem auch dieses Heft der PiA dienen soll.

Literatur

DIE ZEIT (2019) Wie herrscht Angst? Martha Nussbaum im Interview mit Elisabeth von Thadden. 10.01.2019. https://www.zeit.de/2019/03/philosophie-angst-martha-nussbaum (Aufruf 22.05.2020).
FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) (2020) Ein kühler Blick in den Renten-Abgrund. Die Politik steckt aktuell im Würgegriff von Corona. Von Kerstin Schwenn und Manfred Schäfers, 20.05.2020 (Nr. 117, 17). https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutschlands-demographie-kuehler-blick-in-den-renten-abgrund-16777704.html (Aufruf 22.05.2020).
Nussbaum M (2019) Königreich der Angst. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Sloterdijk P (1996) Alte Leute und letzte Menschen. Notiz zur Kritik der Generationenvernunft. In: Tews HP, Klie T, Schütz RM (Hg) (1996) Altern und Politik. Melsungen (Bibliomed).7–21.