17. Jahrgang 2020, Heft 1: Eine Institution stellt sich vor
Christoph Kunze & Peter König:
Techniknutzung im Alter und technikgestützte Versorgung in gesundheitsbezogenen Studiengängen.
Das Future Care Lab an der Hochschule in Furtwangen
Digitalisierung, soziale Teilhabe und pflegerische Versorgung
Die Digitalisierung ist ein weitreichender gesellschaftlicher Transformationsprozess, der alle Lebensbereiche mit enormer Dynamik verändert. In Bezug auf Autonomie und Teilhabe älterer Menschen wirkt Digitalisierung auf drei Ebenen:
Erstens gewinnt der Bereich der Teilhabe an der digitalen Welt zunehmend an Bedeutung. Auf der einen Seite bietet diese für Menschen mit Behinderung (im Sinne von Schädigungen, Funktionsstörungen und sozialer Beeinträchtigung) neue einfache Teilhabemöglichkeiten und einen stigmatisierungsfreien Interaktionsraum, auf der anderen Seite ist die ökonomische, politische, soziale und kulturelle Teilhabe in zunehmendem Maße von der Nutzung von Internetdiensten abhängig. Dabei bestehen enorme Ungleichheiten beim Zugang zum Internet und der Nutzung von Onlinediensten. Von dieser »digitalen Kluft« sind ältere Menschen in besonderem Maße betroffen. Aktuelle Studien zeigen, dass vor allem ältere Menschen mit niedrigem Bildungsstand und sozioökonomischem Status das Internet nicht nutzen, und dass sich ein Teil der Nichtnutzer dadurch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen fühlt (Seifert u. Rössel 2019).
Zweitens bieten digitale technische (Assistenz-)Systeme hohe Potenziale zur Förderung der Teilhabe in der physischen Welt. In den letzten zehn Jahren wurden vor allem im Bereich der technischen Forschung vielfältige Entwicklungsaktivitäten zu technischen Assistenzsystemen angestoßen, die ältere Menschen, Menschen mit Pflegebedarf und Menschen mit Behinderung in einer selbstbestimmten und selbstständigen Lebensführung in den eigenen vier Wänden unterstützen sollen (vgl. Schulz et al. 2015 für einen Überblick aus gerontologischer Perspektive). Das Spektrum der dabei entwickelten Unterstützungssysteme reicht von einfachen Tablet-Applikationen zur Förderung sozialer Interaktion bis hin zu robotischen Exoskeletten zur Förderung der Mobilität.
Drittens hat die digitale Transformation in zunehmendem Maße auch Auswirkungen auf die informelle und professionelle pflegerische Versorgung älterer Menschen. Technische Unterstützungssysteme können die Arbeit von Pflegenden unterstützen und durch Vernetzung die Versorgungskontinuität über Sektorengrenzen hinweg fördern (Kunze 2019). Zwischen den Ansprüchen des Forschungsfeldes und der tatsächlichen Anwendung neuer technischer Unterstützungssysteme in der Versorgungspraxis klafft allerdings eine große Lücke: Bisher haben nur wenige der entwickelten Assistenzsysteme Produktreife erreicht, und auch diese Produkte werden seitens der Anwender nur zögerlich angenommen (Kunze 2018). Fehlende Qualifikationen von Fachkräften im Zusammenhang mit dem Einsatz neuer Technologien im Sozial- und Gesundheitswesen sind dabei eine in Studien häufig benannte Innovationsbarriere.
Neue Qualifikationsanforderungen im Kontext der Digitalisierung
Auch wenn die Digitalisierung in der Sozialwirtschaft langsamer voranschreitet als in anderen Branchen, verändern sich im Zuge der digitalen Transformation auch hier Tätigkeitsfelder, Arbeitsorganisation und infolge daraus Qualifikationsanforderungen an Mitarbeitende. Dabei reicht es nicht aus, Kompetenzen zur korrekten Anwendung technischer Systeme zu vermitteln. Erwartet wird, dass Fachkräfte auch über Kompetenzen zur Reflexion der komplexen Zusammenhänge des Technikeinsatzes (z.B. ethische Aspekte, Auswirkungen auf Organisations- und Fachkulturen sowie auf die Lebenswelt der Pflegebedürftigen) verfügen (vgl. Hülsken-Giesler 2010 für den Bereich der Pflege). Zudem sind Fachkräfte in der Praxis häufig auch dafür verantwortlich, sich um die Aufrechterhaltung der Betriebsfähigkeit der Technik zu kümmern, was ein gewisses Maß an technischen Kompetenzen erfordert.
Im Kontext technischer Assistenzsysteme werden Fachkräfte in Pflege und Sozialwesen darüber hinaus neue Rollen zugeschrieben: Neben der eigenen Nutzung von Technik werden sie in Zukunft auch als Technikvermittler dafür verantwortlich sein, den Technikeinsatz durch Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderungen oder deren Angehörigen zu begleiten sowie auf Chancen und Risiken aufmerksam zu machen (Daum 2017), sei es durch Beratung zum Technikeinsatz, Anleitung bei der Anwendung oder emotionale und fachliche Unterstützung. Nicht zuletzt ist anzumahnen, dass Fachkräfte über die Kompetenzen verfügen, die mit der digitalen Transformation verbundenen Veränderungsprozesse in ihrer eigenen Profession aktiv mitzugestalten. Neben der Mitarbeit an der Technikentwicklung selbst (etwa im Rahmen der Bedarfserhebung und Anforderungsanalyse) gehören hierzu vor allem auch Aufgaben bei der wechselseitigen Anpassung von Technik und Versorgungspraxis im Rahmen von Aneignungsprozessen (Kunze 2017).
Technik erfahrbar machen: Lernen im Future Care Lab und im Multiprofessionellen Skills Lab
Um den veränderten Qualifikationsanforderungen im Kontext der Digitalisierung gerecht zu werden, werden an der Hochschule Furtwangen im Studiengang Angewandte Gesundheitswissenschaften seit 2011 entsprechende Lehrinhalte im Pflichtprogramm integriert. Zur Unterstützung erfahrungsbasierten Lernens steht dabei seit 2015 das Future Care Lab als besonderer Lernort zur Verfügung. In dieser realitätsnahen Lebensumgebung mit Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad sind vielfältige technische Assistenzsysteme integriert. Neben heute am Markt verfügbaren Systemen werden dabei auch neue Technologien berücksichtigt, die in Zukunft in Unterstützungssystemen eingesetzt werden können. Das Future Care Lab, das vorrangig als Forschungsumgebung konzipiert ist, wird auch in der Lehre eingesetzt, um Potenziale von neuen Technologien im Gesundheitswesen und den Umgang mit technischen Hilfsmitteln im Anwendungskontext zu erlernen. Darüber hinaus wird im Multiprofessionellen Skills Lab eine institutionelle Umgebung (Krankenhaus, Pflegeheim) simuliert, in der vorwiegend innovative technische Assistenzsysteme zur Unterstützung der Pflegenden für Übungs- und Forschungszwecke zur Verfügung gestellt werden.
In einem ersten Schritt geht es dabei zunächst darum, allen Lernenden unabhängig von Vorkenntnissen oder Technikaffinität eigene praktische Erfahrungen mit neuen Technologien und Prozessen zu ermöglichen. Wie fühlt sich z.B. die Interaktion in virtuellen Umgebungen an? Oder wie verändert sich die Kommunikation mit Patienten bei Nutzung von Telepräsenz-Systemen? Welche Einsatzmöglichkeiten und welche Grenzen haben aktuell verfügbare Roboter im häuslichen Umfeld? Welche Konsequenzen hat der Einsatz von Sensortechnik in Krankenbetten? Die Nutzung neuer Technologien fördert dabei auch Kompetenzen, die für die Konfiguration und Anpassung technischer Lösungen im Rahmen von Versorgungsprozessen wichtig sind. Wie können beispielsweise vernetzte Objekte aus dem Internet der Dinge und Onlinedienste zu individuellen Assistenzfunktionen, z.B. zum Medikationsmanagement, verknüpft werden? Welche Datenschutzaspekte sind dabei wichtig und wie können diese behandelt werden?
In einem zweiten Schritt haben Studierende im Rahmen einer Übung die Möglichkeit, in Kleingruppen diverse Hilfsmittel in den Laboren selbst auszuprobieren und zu testen. Ziel der Übungen ist es, den Studierenden einen Einblick in grundlegende Problemstellungen von Pflegebedürftigkeit und entsprechende diagnostische und therapeutische Konzepte zu geben. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der eigenen Erfahrung mit Pflegebedürftigkeit und Handicaps sowie der Anwendung pflegerischer Techniken und Methoden. Durch einen Handicap-Simulationsanzug können körperliche Einschränkungen wie Bewegungseinschränkungen, Muskelschwäche, Seh- und Hörstörungen sowie Tremor und haptische Wahrnehmungsstörungen nachgeahmt werden. Die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel können dann in vorgegebenen Szenarien getestet werden. Die Studierenden gewinnen dadurch einen kritischen und reflektierten Zugang zu den diversen Unterstützungsmöglichkeiten. Anhand von Fallbeispielen werden ethische Problemstellungen und Herausforderungen im Kontext der technikgestützten Versorgung thematisiert. Wie kann zum Beispiel hygienisches Arbeiten durch Einsatz von Kontrollsystemen verbessert werden? Oder in welchen Anwendungskontexten und unter welchen Bedingungen erscheint die Nutzung von GPS-Trackingsystemen für Menschen mit Demenz, mit denen Betreuende Menschen mit Hin- und Weglauftendenz bei Bedarf orten können, akzeptabel? Welche Gestaltungsoptionen, wie z.B. die Nutzung von »virtuellen Zäunen« (sog. Geofencing) oder die Einbettung in sozialräumliche Strukturen, spielen dabei für die Bewertung eine Rolle? Wie kann hygienisches Arbeiten durch Einsatz von Kontrollsystemen verbessert werden?
Im Rahmen des weiterführenden Projektstudiums haben Studierende die Möglichkeit, in Kooperation mit regionalen Praxispartnern die nutzerzentrierte Gestaltung von Gesundheitstechnologien zu begleiten oder die Integration von technischen Assistenzsystemen in die Versorgungspraxis mit zu gestalten und zu evaluieren. Zwei typische aktuelle Anwendungsbeispiele hierfür sind die Nutzung interaktiver Medien in der Erinnerungspflege für Menschen mit Demenz oder der Einsatz von Video-Telecare in der Palliativversorgung.
Fazit
Mit dem Future Care Lab und dem Multiprofessionellen Skills Lab werden für Forschung und Lehre weitreichende Möglichkeiten eröffnet, technische Assistenzsysteme jeglicher Art kennenzulernen, zu testen und weiterzuentwickeln. Die wirklichkeitsnahe Lernumgebung und das Üben in kleinen Gruppen fördern die aktive, selbstgesteuerte Arbeit von Studierenden mit sehr guten Lernergebnissen. Die Studierenden lernen dabei in verschiedenen Lehrformaten, technikgestützte Versorgungsmodelle aus fachlicher Perspektive kritisch zu reflektieren, zu implementieren und Praxisakteure bei der Nutzung technischer Hilfsmittel zu begleiten.
Literatur
Daum M (2017) Digitalisierung und Technisierung der Pflege in Deutschland. DAA Stiftung Bildung und Beruf (Hamburg). https://www.daa-stiftung.de/fileadmin/user_upload/digitalisierung_und_technisierung_der_pflege_2.pdf (Aufruf 01.11.2019).
Hülsken-Giesler M (2010) Technikkompetenzen in der Pflege – Anforderungen im Kontext der Etablierung neuer Technologien in der Gesundheitsversorgung. Pflege & Gesellschaft, 15(4): 330–352.
Kunze C (2017) Technikgestaltung für die Pflegepraxis: Perspektiven und Herausforderungen. Pflege & Gesellschaft 2017(2): 130–145.
Kunze C (2018) Technische Assistenzsysteme in der Sozialwirtschaft – aus der Forschung in die digitale Praxis? In: Kreidenweis H (Hg) (2018) Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Nomos (Baden-Baden) 163–177.
Kunze C (2019) Assistive Technologien in der häuslichen Umgebung. In: Dockweiler C, Fischer F (Hg) (2019) ePublic Health: Einführung in ein neues Forschungs- und Anwendungsfeld. Hogrefe (Zürich) 199–210.
Schulz R, Wahl HW, Matthews J, De Vito Dabbs A, Beach S, Czaja S (2015) Advancing the Aging and Technology Agenda in Gerontology. The Gerontologist 55(5): 724–734.
Seifert A, Rössel J (2019) Digital Participation. In: Gu D, Dupre M (Hg) (2019) Encyclopedia of Gerontology and Population Aging. Springer (Cham).