18. Jahrgang 2021, Heft 4: Eine Institution stellt sich vor

Stefan Bohlen:

Das George Huntington Institut

Studienambulanz und Anlaufstelle für Menschen, die von der Huntington'schen Krankheit betroffen sind

Das George Huntington Institut (GHI) widmet sich der Behandlung und Erforschung der Huntington’schen Krankheit (HK). Es wurde 2013 von Dr. Ralf Reilmann gegründet und unterhält eine der weltweit größten Studienambulanzen für Risikopersonen, Mutationsträger, Patienten und deren Angehörige. Das GHI betreut in einer weltweiten Registerstudie (www.enroll-hd.org) mit über 20.000 Teilnehmern rund 800 Teilnehmer. Davon ist etwa die Hälfte an der HK erkrankt, etwa ein Viertel sind Risikopersonen oder noch nicht erkrankte Mutationsträger.

Die Huntington’sche Krankheit

Die Huntington’sche Krankheit ist die häufigste autosomal dominante neurodegenerative Krankheit. Die Mutation besteht aus einer Triplet-Expansion (CAGn) mit unterschiedlichen Ausprägungen, die großen Einfluss auf das Erkrankungsalter und die Progressionsgeschwindigkeit nehmen. Die CAG-Expansion ist transgenerational meist stabil, kann aber (häufiger bei paternaler Transmission) auch weiter expandieren, was zu einem früheren Erkrankungsbeginn mit rascherer Progression in der Folgegeneration führt (Antizipation). Das typische Erkrankungsalter liegt zwischen 35 und 50 Jahren, die typische Krankheitsdauer beträgt 15 bis 20 Jahre, wobei es jeweils sehr große Schwankungsbreiten gibt. Die häufigsten Todesursachen sind Komplikationen wie Aspirationspneumonien oder Traumata durch Stürze. Eine molekulargenetische Untersuchung steht sowohl manifest Erkrankten wie auch Risikopersonen zur Verfügung.

Recht auf Wissen – Recht auf Nichtwissen

Eine besondere Herausforderung stellt die Beratung von Risikopersonen dar, die eine prädiktive molekulargenetische Untersuchung erwägen. Im Gendiagnostikgesetz ist hierzu festgelegt, dass eine solche Beratung nur durch Ärzte mit besonderer Qualifikation (z.B. Fachärzte für Humangenetik, Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik oder der Qualifikation zur Fachgebundenen Genetischen Beratung) durchgeführt werden darf. Zentral ist dabei zu beachten, dass die Beratung ergebnisoffen erfolgt. Aus meiner Erfahrung sind die beiden häufigsten Gründe, eine solche Untersuchung zu wünschen, Gewissheit zu erlangen und/oder ein Kinderwunsch. Für den Fall einer Mutationsträgerschaft stellt sich daher häufig die Frage, ob eine Weitergabe an die nächste Generation verhindert werden kann. Da eine pränatale molekulargenetische Untersuchung des Embryos zumindest in Deutschland gesetzlich verboten ist, kommt dafür die Präimplantationsdiagnostik in Betracht. Das Paar sollte sich aber bewusst machen, dass – je nach Ausprägung des genetischen Befundes – der eine Elternteil womöglich seine Rolle als Vater oder Mutter nicht während der gesamten Kindheit ausfüllen kann, weil er in dieser Zeit selbst hilfsbedürftig werden könnte.
   In der Beratung geht es auch um den Einfluss, den ein ungünstiges Ergebnis schon lange vor dem Erkrankungsbeginn für den Betroffenen, aber auch für Nahestehende hat. Psychisch belastend kann sogar ein günstiges Ergebnis sein mit der Entwicklung einer Art »Überlebensschuld-Syndrom« mit unter Umständen schweren depressiven Symptomen bis hin zu Suizidalität. Der Hinweis auf diesen scheinbaren Widerspruch ist immer Teil meiner Beratung. Uneingeschränkte Freude über einen günstigen Befund ist daher auch nicht die Regel, sondern beschränkt sich auf Menschen, die keine nahestehenden Verwandten (mehr) haben, die genetisch betroffen oder Risikopersonen sind. Im Gegensatz zu humangenetischen Praxen oder Medizinischen Versorgungszentren können wir den ehemaligen Risikopersonen anbieten, zum Beispiel über die genannte Registerstudie mit uns in Kontakt zu bleiben und aktiv an der weiteren Forschung mitzuwirken. Viele nutzen diese langfristige Anbindung auch dazu, an sich selbst beobachtete Auffälligkeiten vom Experten daraufhin einschätzen zu lassen, ob es sich um HK-Symptome handelt oder nicht.

Schweres Erbe

Die HK geht mit motorischen Störungen (Chorea, Augenbewegungsstörungen, Feinmotorikstörungen, Sprech- und Schluckstörungen), kognitiven Störungen und Verhaltensauffälligkeiten einher. Welche Symptome wann und in welcher Ausprägung auftreten, ist von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Die Behandlung der motorischen Störungen besteht aus antichoreatischen Medikamenten (z.B. Tiaprid) sowie Komplementärtherapien (Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie). Psychische Symptome treten im Verlauf praktisch immer auf. Am häufigsten sind depressive Episoden, Angststörungen, erhöhte Reizbarkeit teils mit Aggressivität sowie Perseveration. Seltener treten auch Zwangsstörungen, wahnhafte Störungen und Halluzinationen auf. Die Symptome fluktuieren typischerweise im Verlauf. Vor allem vor und/oder zu Beginn der Erkrankung, aber auch für die genetisch nicht betroffenen Angehörigen spielen die Psychotherapie und die psychologische Beratung wichtige Rollen. Die medikamentöse Therapie erfolgt symptomorientiert off-label.
   Die Erkrankten stehen je nach Verlaufsform und Stadium der Erkrankung sehr unterschiedlichen körperlichen und psychischen Herausforderungen gegenüber. Meist tritt die Erkrankung bereits während des Erwerbslebens ein. Kognitive Störungen können je nach Beruf schon früh zu Leistungsminderung führen. Nicht selten erfolgen Abmahnungen oder auch Kündigungen, wodurch psychische Symptome ausgelöst oder verstärkt werden können. Hilfreich kann die Einschaltung des Integrationsfachdienstes sein, die die vorherige Zuerkennung einer Schwerbehinderung erforderlich macht. Eine Erwerbsminderung lässt sich durch berufliche Rehabilitation in einigen Fällen verzögern, letztlich aber nicht verhindern. Schließlich werden die Patienten pflegebedürftig.
   Die motorischen Symptome führend anfangs oft noch nicht zu einer relevanten Behinderung im Alltag, können aber Anlass für Diskriminierung durch Außenstehende sein. So werden Patienten wegen eines schwankenden Gangbildes als »Alkoholiker« angesehen und abwertend behandelt.
   Da die kognitiven Störungen vor allem die exekutiven Funktionen betreffen, mithin vor allem das strukturelle und strategische Denken sowie die mentale Flexibilität, werden sie erst spät als demenzielle Entwicklung erkannt und als Ursache für Schwerbehinderung oder Erwerbsminderung auch anerkannt. Manchmal steht auch eine Anosognosie so im Vordergrund, dass Patienten jegliche Unterstützung und Therapievorschläge ablehnen. Nicht nur in diesen Fällen stellt die Krankheit für die Angehörigen eine große Belastung dar. Auch wenn sie zum Beispiel als Partner oder sonstiger Nicht-Mutationsträger genetisch nicht betroffen sind, führt die Wesensveränderung des oder der Angehörigen, die zusätzlichen finanziellen Belastungen durch Einkommensausfall und Ausgaben für Hilfsmittel oder Pflege und die Sorge um andere Angehörige nicht selten zu depressiven Episoden, vermehrter Reizbarkeit und gelegentlich zu Suizidalität. Viele empfinden den Kontakt zu oder auch das Engagement in einer Selbsthilfegruppe der Deutschen Huntington Hilfe (www.dhh-ev.de) als hilfreich. Die Münsteraner Gruppe trifft sich regelmäßig in den Räumen des GHI.

Wer kommt? Wer bleibt? – Wer kommt, der bleibt!

Das GHI ist aktiv in die Arbeit des Europäischen Huntington Netzwerks (EHDN) sowie der Huntington Study Group (HSG) eingebunden und ist regelmäßig an klinischen Studien der Phasen I bis III und anderen wissenschaftlichen Projekten – teils federführend – beteiligt. Durch den langfristigen Kontakt mit den Familien besteht zu den Kandidaten für klinische Studien in den meisten Fällen bereits ein Vertrauensverhältnis, das zu einer besonders guten Compliance während der Teilnahme an Studien führt. Auch können wir durch die regelmäßig erhobenen Daten der Registerstudie bereits im Vorfeld einer Studie sehr gut abschätzen, wer für eine Teilnahme infrage käme. Eine Teilnahme an der Registerstudie steht allen erwachsenen Interessierten, die aus einer Huntington-Familie stammen, offen.