18. Jahrgang 2021, Heft 1: Eine Institution stellt sich vor
Ingmar Hornke & Boris Knopf:
Würdezentrum gUG (haftungsbeschränkt) Frankfurt am Main
Stärkung des Würdeerlebens bei schwerer Krankheit, in Gebrechlichkeit und am Lebensende: Für ein Mehr an Menschlichkeit in Medizin und Pflege
Viele schwerkranke und gebrechliche Menschen mit ihren Angehörigen erleben das deutsche Gesundheitswesen und die Altenhilfe in Struktur und Handeln vielfach als entwürdigend und unmenschlich. Ärztinnen und Ärzte wie beruflich Pflegende berichten frustriert, dass auch sie selbst das oft so erleben. Nicht Wenige geben den ursprünglich mit großer Begeisterung gewählten Beruf als Helfende deswegen sogar entmutigt und enttäuscht auf. Andere befinden sich im Zustand innerer Emigration; das Gefährdungspotenzial für die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden rückt erst in letzter Zeit zunehmend in den Fokus der Wahrnehmung.
Grundgesetz und Menschenrechte fordern (Mit-)Menschlichkeit
»(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt« (Art. 1 und 2 Grundgesetz f.d. Bundesrepublik Deutschland).
»Grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung darf niemand unterworfen werden […]« (Art. 5 Allg. Erklärung der Menschenrechte, Vereinte Nationen).
Die Logikmuster von zuwendungsorientierten Hilfebeziehungen einerseits und ökonomisch struktur- und prozessoptimierten Marktereignissen (Dienstleistung) andererseits widersprechen sich in grundlegender Weise. Gesellschaftliche und politische Regelvorgaben mit dem Priorat der ökonomischen beziehungsweise merkantilen Systemsteuerung drohen die Mitmenschlichkeit als fundamentale Handlungskategorie in »Gesundheitsindustrie« und »Altenhilfewirtschaft« zu eliminieren. Durch diesen Regelungseingriff wird das Würdeerleben von Patienten, Klienten, Angehörigen und beruflich Helfenden regelmäßig verletzt.
Würdeerleben (eigene Definition)
Würdeerleben (auch: Würdeempfinden), Axiom: Würde erscheint als ein dem Subjekt external zugewiesener oder originär vorliegender und unverlierbar innewohnender Seinsbegriff, der einen Wert ohne Gegenwert beschreibt. Das Vorhandensein dieser Würde kann in Ausmaß und Bedeutung nur in der Begegnung mit sich selbst und anderen Subjekten erfahren werden, seien es Menschen, vielleicht Tiere und erlebte Instanzen der Transzendenz (z.B. Gott).
Die Würde selbst kann in diesem Sinne nicht veräußert, geteilt, verletzt, zerstört, gewahrt, wiederhergestellt oder anderweitig vergrößert oder verkleinert werden. Jedoch die Wahrnehmung für diese Würde kann gesteigert, gefördert, gestärkt oder aber verletzt, unterdrückt und auch zerstört werden. Maßgebliche Lebensressource ist für den Menschen daher die Größe, Intensität und Stabilität der Fähigkeit zum Erleben der ihm unveränderlich innewohnenden Würde.
Diese einzig im Dialog (reaktive Begegnung) erfahrbare Größe des Würdeerlebens ist der Schlüssel für Selbstwerterleben, Lebensmut und Resilienz. Erniedrigende, entmutigende und missachtende Begegnungen dagegen verletzen das Würdeerleben und bewirken daher eine mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit der an sich unveränderten Würde. Interventionen zur Stärkung von Schutz und Achtung der Würde des Menschen müssen sich daher nach unserem Verständnis grundsätzlich an diesem Axiom des Würdeerlebens orientieren, um wirksame Einflüsse zu entfalten.
Auf dieser Basis wurde im Sommer 2016 das Würdezentrum in Frankfurt am Main gegründet. Es ergänzt das Angebot der Partnereinrichtung PalliativTeam Frankfurt gGmbH in der ambulanten Palliativversorgung um einschlägige Bildungsangebote, Konzept- und Methodenentwicklung sowie Angebote der Politikberatung und Organisationsentwicklung.
Das Würdezentrum
Das Würdezentrum wurde als gemeinnützige Einrichtung in der Rechtsform einer haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft (gUG [hb]) gegründet. Das Ziel dieser Einrichtung besteht darin, zur Stärkung der Mitmenschlichkeit im deutschen Gesundheitswesen und in der Altenhilfe beizutragen. Dabei fokussieren wir uns auf Situationen, in denen das Würdeerleben und die Autonomiewahrnehmung am stärksten gefährdet sind: in Gebrechlichkeit, schwerer Krankheit und am Lebensende.
In diesen vulnerablen Situationen bedarf es – integriert in bedarfsgerechte körperorientierte Medizin, Therapie und Pflege – ganz besonders der mitmenschlichen beziehungsweise mitfühlenden Zuwendung. Diese Art der Zuwendung erfordert grundlegend eine allgemeine gesellschaftliche und spezifisch professionelle Kultur des behutsamen und ressourcenorientierten Umsorgens der ganzen Person samt ihrer Zugehörigen (Solidarität/Allgemeine Sorgekultur/Personenzentrierte Pflege und Medizin).
Die Mitarbeitenden des Würdezentrums möchten mittelbar möglichst wirksam dazu beitragen, dass Menschen in den oben genannten Bedarfsfällen solche Behandlung und Hilfe zugutekommt, die sie selbst sich wünschen und die ihren Bedürfnissen entspricht. Dies ist auch dann im Sinne einer relationalen Autonomiebefähigung sicherzustellen, wenn sie selbst nicht in der Lage sind, diese selbst einzufordern (Heimerl et al. 2020).
Bevormundung der Patienten und Beliebigkeit beziehungsweise Willkür von Surrogatentscheidungen sind so weit irgend möglich zu vermeiden. Dies gilt gleichermaßen für Entscheidungen durch Pflegende, Behandelnde, weitere beruflich Helfende und Angehörige. Die besonders bedeutsame Stellung der frei ausübbaren Autonomie im Verhältnis zur grundgesetzlich geschützten Würde ist im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des BVerfG zum §217 StGB (26.02.2020) über die Suizidbeihilfe bestätigt und gestärkt worden. Die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen muss unbedingt wieder zum führenden Leitgedanken von Gesellschaft und Politik sowie der konkreten Strukturentwicklung und Handlung in Pflege und Behandlung werden.
Relationale Autonomie (eigene Definition)
Relationale Autonomie: Selbstbestimmung wirkt in Begegnung. Der Mensch ist nicht aus sich selbst autonom. Mit dem (passiven) Eintritt in das Leben erlangen wir erst und nur durch fürsorgliches Handeln Anderer, fallweise durch eigene Entwicklung die Freiheit und Fähigkeit zur Selbstbestimmung in zunehmendem Umfang. Diese Selbstbestimmung allerdings ist selbst bei voller Entfaltung als Freiheitsmerkmal des Menschen nur wirksam im Kontext der Begegnung mit dem Anderen. Sie prägt sich aus, indem ich wählen und bestimmen kann, auf welche Weise und in welchem Maße ich mich auf die Begegnung und den Anderen einlasse.
Gebrechlichkeit, Krankheit und Tod schränken an sich und durch ihre den ganzen Menschen betreffenden Auswirkungen und Leidenszustände die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in unterschiedlicher Ausprägung und Stärke ein (natürlicher Antagonismus zu Autonomie). Sie erfordern oft oder erzwingen gar die Einlassung auf das Gegenüber in der Rolle des Helfenden. Vollkommene Selbstbestimmung am Lebensende ohne die Interaktion mit Begleitung und/oder Hilfe bedeutet den vom Menschen isolierten, eventuell auch selbstausgelösten Tod und beendet dabei gleichzeitig mit dem Todeseintritt jegliche Fähigkeit zur eigenen Autonomiewahrnehmung. Die (würdevolle) Bestattung des Leichnams wenigstens ist ausschließlich durch den Anderen möglich.
Gelingende Hilfebeziehung bei Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen durch Förderung seines Würdeerlebens in Gebrechlichkeit, schwerer Krankheit und am Lebensende findet immer auf der Grundlage der relationalen Autonomie als zwingend wechselseitiges Beziehungskonstrukt statt.
Damit Behandlung und Pflege in Altenhilfe und Medizin von (besonders chronisch) Schwerstkranken einschließlich der Palliativversorgung unter Achtung und Schutz der Würde gelingt, bedarf es unbedingter Voraussetzungen. Die hilfebedürftige Person ist kein frei entscheidender Teilnehmer an einem Marktgeschehen, sie ist von Krankheit oder Gebrechlichkeit zur autonomen Entscheidung über die Hilfeannahme gezwungen. Hilfeangebote sind daher solidarisch zu gestalten und nicht als merkantiles Leistungsangebot zur Generierung von Erlösen auszurichten. Um in diesem Rahmen die Hilfeangebote zu ermöglichen, welche die Würde des Menschen für alle Beteiligten achten und schützen können, muss eine immer individuelle Personenzentrierung bei Bedarfsermittlung, Zielklärung, Einvernehmen und Durchführung von Maßnahmen erfolgen.
Dazu ist das gemeinsame Engagement, das fundierte Wissen und die professionelle Haltung der hauptamtlichen Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer erforderlich; Einzelpersonen und Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Altenhilfe und der Hospizbewegung sollten wertschätzend und konstruktiv zusammenarbeiten. Grundlage für eine erfolgreiche Personenzentrierung und Mitmenschlichkeit bilden allerdings an erster Stelle die Unterstützung, Mithilfe und Akzeptanz von Angehörigen und Nachbarn sowie der gesellschaftliche Konsens zu Solidarität und wechselseitiger Mitverantwortung.
Um die Personenzentrierung zugunsten des Würderlebens zu fördern, ist eine entschlossene Haltung gesellschaftlicher Gruppen und politisch handelnder Personen und Parteien zur effektiven Stärkung der Mitmenschlichkeit in einer solidarisch fundierten allgemeinen Sorgekultur (Konzept der »sorgenden Gemeinschaft«) unverzichtbar. Anreize gegen gesellschaftlich und politisch selbst auferlegte merkantilistische Zwänge zur Ökonomisierung des Sozialen müssen zum Gelingen dieser erforderlichen Kulturprägung gestaltet werden. Wohlstand im weltweiten Wettbewerb um begrenzte Ressourcen ist keine selbstverständliche und unbedingte Grundlage, daher besteht unzweifelhaft eine allgemeine Verantwortung zu wirtschaftlich nachhaltigem Handeln. Nach unserer Überzeugung muss nachhaltig orientierter Umgang mit Ressourcen aber stets dem Priorat der Menschlichkeit dienen.
Mitmenschlichkeit als zentrales Wirkprinzip im Konflikt mit Erlösoptimierung
Mitmenschlichkeit: Die handlungsorientierte Ausprägung von Mitgefühl (engl.: compassion) ist Grundlage und zentrales Wirkprinzip einer an den Autonomiebedürfnissen und dem Schutz der Würde von hilfebedürftigen Menschen ausgerichteten Beziehungskultur.
Als beste Voraussetzung für wechselseitige Solidarität von Menschen zwischen den Polen »Eigenverantwortung« und »Hilfebedarf« gelingt sie nur auf der Basis eines tragfähigen wie offenen Dialoges sowie Einverständnisses mit der Kernfrage: »Was muss ich über Dich wissen, um Dir so zu helfen, wie Du es wünschst?«
Mitmenschlichkeit nimmt auf die spezifischen personalen Bedürfnisse des auf Hilfe Angewiesenen Rücksicht und zeichnet sich insbesondere durch die Fähigkeit zur 1. Perspektiveinnahme des Leidenden, 2. Rücksichtnahme auf die Ressourcen und Kompetenzen des Gegenübers und 3. das Ertragen der notwendigen »Extra-Meile« gegenüber der prozessoptimierten Routine aus.
Dieses erfordert dabei, dass der Helfende nicht dauerhaft und unfreiwillig gegen seine eigenen Lebensinteressen und das eigene Würdeerleben agieren muss. Eine angemessene Selbstfürsorge ohne Zurückweisung der spezifischen Hilfebedarfe muss möglich sein. Strukturen, welche dieses ermöglichen, können nicht zugleich personenzentriert und erlös- oder aufwandsoptimiert in gleichem Maße agieren.
Sie stehen zwangsläufig in einem (freien) Marktgeschehen gegenüber den Kostenträgern im Wettbewerb mit erlösoptimierenden Einrichtungen unvermeidlich im Nachteil. Dieser Effekt wird in besonderer Weise verstärkt, da der auf den Würdeschutz angewiesene Nutzer strukturell zur Gestaltung des Geschäftsinhaltes nicht beteiligt ist und durch seine die Hilfebedarfe begründende Situation fast ausnahmslos nicht zur eigenen Marktteilnahme befähigt ist.
Mitmenschlich für das Würdeerleben der Klienten handelnde Mitarbeiter, sowie die je unterschiedlich bedürftigen Klienten selbst, sind zwangsläufig und unausweichlich in erlösoptimierenden Einrichtungen wirtschaftliche Risikofaktoren. Es entsteht zwangsläufig ein Konflikt, der die Helfenden zwingt, durch Selbstausbeute in unvergüteten Arbeitszeitanteilen den erforderlichen und im Marktgeschehen nicht vorgesehenen individuellen beziehungsweise spezifischen Mehraufwand zugunsten der hilfebedürftigen Personen zu kompensieren oder die Bedürfnisse der Klienten systematisch und strukturell bedingt zu missachten.
In diesen Handlungsfeldern dient unser systemisches Engagement dazu, Bedingungen zu unterstützen, die einer in diesem Sinne zu stärkenden wechselseitigen Sorgekultur erfolgreich zur Wirkung verhelfen. Dazu widmen wir uns sowohl der Untersuchung von Voraussetzungen, Umfeldbedingungen sowie deren Auswirkungen und dem Aufspüren wirkungsvoller Strategien und Methoden im internationalen Kontext. Im Ausland etablierte und wirksam erkannte Verfahren unterziehen wir in Zusammenarbeit mit entsprechenden Experten der Anpassung, Übertragung, Erprobung und unterstützen deren Implementierung. Mitarbeitende des Würdezentrums engagieren sich in der sorgespezifischen Politik-, Verbände- und Einrichtungsberatung; darüber hinaus wird themenzentriert eine zielgerichtete Netzwerk-, Öffentlichkeits- und berufliche Bildungsarbeit betrieben.
Die PalliativAkademie Frankfurt und weitere Angebote
Als weitere Abteilung des Würdezentrums wird derzeit die PalliativAkademie Frankfurt aufgebaut. In der Akademie werden alle in diesem Sinne angebotenen Bildungsangebote für die allgemeine Bevölkerung sowie die ärztliche, therapeutische, seelsorgerische und hospizliche wie pflegerische Fachöffentlichkeit gebündelt.
Darüber hinaus ist das Würdezentrum bundesweit und international maßgeblich an der Neu- und Weiterentwicklung von Schulungskonzepten im Kontext von personenzentrierter Pflege und Medizin, Palliative Care und Würdeerleben beteiligt. Beispielhaft sei auf Bildungsformate verwiesen wie »ZukunftsDialog«, »Umgang mit Todeswünschen in der Palliativversorgung«, »Begegnung mit dem Freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken«, »Grundlagen und Praxis der palliativen Sedierung«, »Umgang mit angekündigter Suizidalität in der Palliativversorgung« und der »Rechtssichere[n] Handhabung von Betäubungsmitteln in der SAPV«.
Zusammen mit der preisgekrönten Initiative »Letzte Hilfe Kurse« und deren Initiator Dr. Georg Bollig (Schleswig) bieten wir in Hessen die erste Möglichkeit an, die Qualifikation als Schulungsleiter für solche Kurse zu erreichen. In Frankfurt bieten wir mit einem eigenen Trainer-Pool diese Kurse für die Bevölkerung an, um entsprechendes Allgemeinwissen zu vermitteln. Zwischenzeitlich haben wir eine führende Rolle bei der weiteren Strukturbildung zu diesem Zweck sowie der inhaltlichen Weiterentwicklung (»Letzte Hilfe Kurse für Kids und Teens« und »Letzte Hilfe professionell«), dem nationalen Roll-Out und der Internationalisierung dieses Projektes übernommen.
Unsere Unterstützung für regionale, nationale und auch internationale gemeinnützige Projekte umfasst zusätzlich die Gründungsförderung und Beratungsvermittlung für einschlägige gemeinnützige Initiativen. Zusätzlich unterstützen wir die Geschäftsstellentätigkeit zum Beispiel von Letzte-Hilfe-Kurse Deutschland gUG (hb), beizeiten begleiten® – Hessen, Deutsche interprofessionelle Vereinigung – Behandlung im Voraus planen (DiV-BVP e.V.) und der internationalen Fachgesellschaft für Behandlung im Voraus planen (international ACP-i.org).
Neben der weiteren Entwicklung der Akademietätigkeit, die unter den derzeitigen Bedingungen der COVID-19-Pandemie erfolgreich auf einen hygienekonformen Onlinebetrieb umgestellt werden konnte, hoffen wir, unsere Innovationsbeiträge zur Stärkung einer allgemeinen Sorgekultur in Gesellschaft und Politik weiter ausbauen zu können. Dazu sind derzeit verschiedene einschlägige Projekte der wissenschaftlichen Zusamenarbeit mit Hochschulen in Vorbereitung beziehungsweise gestartet.
Unsere Arbeit finanziert sich ausschließlich durch Spenden, Zuwendungen und Teilnahmebeiträge für Bildungsangebote.
Literatur
Heimerl K, Böck K, Kojer M, Kunz R, Müller D, Neuhaus U, Röker M, Jox R (2020) Selbstbestimmung und Autonomie in der Palliativen Geriatrie – ein Grundsatzpapier. Z Palliativmed 21: 243–247.