18. Jahrgang 2021, Heft : Eine Institution stellt sich vor
Interview mit Silvia Renken, Leitende Psychologin der Gerontopsychiatrie Hamburg Ochsenzoll. Interviewt von Eva-Marie Kessler:
Wie ich in die Gerontopsychiatrie gerit und warum ich blieb
Ke: Frau Renken, wie kamen Sie dazu, Psychotherapeutin für ältere Menschen zu werden?
Re: Das war zunächst einmal Zufall. Eine Mitbewohnerin arbeitete in der Gerontopsychiatrie. Als sie die Arbeitsstelle wechselte, bewarb ich mich Ende 2002 auf ihre Stelle. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich in der Beratung und ich wollte wieder zurück in die Psychiatrie, zurück in die Behandlung. Ich dachte, ich würde vorübergehend in der Gerontopsychiatrie arbeiten und später in eine der anderen Abteilungen der Asklepios Klinik Nord Ochsenzoll wechseln.
Es könnte ein Schlüsselerlebnis, eine Szene gegeben haben, dass ich in der Gerontopsychiatrie geblieben bin. Ich erinnere mich noch genau, dass wir in einer Visite gemeinsam ein Computertomografie-Bild vom Kopf eines Patienten betrachtet haben. Da fühlte ich mich wie zu Hause. Dazu muss man wissen, dass ich medizinisch »sozialisiert« bin. Ich bin examinierte Krankenschwester und habe vier Semester Medizin studiert, bevor ich zur Psychologie gewechselt habe. In der Gerontopsychiatrie finden Psychologie, Psychotherapie und Medizin breite Anwendungsmöglichkeiten. Meine Interessen verbanden sich, Medizin und Psychologie – der Mensch als Ganzes.
Hinzu kam, dass mein damaliger Chef Claus Wächtler (er hat vor fast 40 Jahren die erste gerontopsychiatrische Tagesklinik aufgebaut) mich gefördert hat. Er schickte mich in den Kurs von Hartmut Radebold, dem Nestor der Alterspsychotherapie, und machte mich 2008 zur leitenden Psychologin seiner Klinik.
Aber das Wichtigste waren die alten Patienten, denen ich mich wider Erwarten schnell verbunden fühlte.
Ke: Sie haben sicherlich im Laufe Ihrer Tätigkeit viele Therapeut*innen in der psychotherapeutischen Arbeit mit älteren Menschen erlebt. Welche Fähigkeiten hatten/haben nach Ihrer Beobachtung »erfolgreiche« Therapeut*innen?
Re: Sie müssen sich für den alten Menschen, seine Sozialisation und die Themen des Alters interessieren. Des Weiteren müssen sie sich persönlich, in der Selbsterfahrung mit dem Thema Alter auseinandersetzen, auch mit den Themen Körper, Krankheiten, Sterben und dem Tod. Zusätzlich brauchen sie Fortbildungen zur Alterspsychotherapie.
Letztlich glaube ich, dass Therapeuten in der Lage sein müssen, zum Patienten eine Beziehung herzustellen. Er/Sie muss den anderen Menschen in seiner Not wahr- und ernst nehmen, damit dieser sich öffnen kann. Geduld und Freundlichkeit zum Beispiel sind hilfreiche Konstrukte. Des Weiteren muss ein Therapeut sich auch immer wieder selbst infrage stellen. Er muss sich »berühren« lassen und sich trotz der Begrenztheit des Lebens seiner Patienten Zeit nehmen für diese. Es gilt die Eigenverantwortung, die Würde und den Willen der alten Menschen zu wahren.
Ke: Es gibt einige empirische Hinweise darauf, dass Therapeut*innen die Beziehung zu älteren Menschen freundlicher, wärmer und persönlicher gestalten. Entspricht das auch Ihrer Beobachtung? Haben Sie eine Erklärung dafür?
Re: Ja und das hat vermutlich mehrere Gründe. Achtung, Respekt vor dem Alter, aber auch der Einfluss einer vermutlich nur noch begrenzten Lebenszeit. Und in der Auseinandersetzung mit dem Patienten auch unsere eigene Angst davor. Die Behandler sind in der Regel jünger als die Patienten und die eigenen Bilder vom Alter spielen dabei eine Rolle. Alte Menschen sind häufig sehr dankbar für Gespräche, das heißt, der Therapeut fühlt sich eventuell sehr geschätzt. Und manchem von uns fällt es in der Beziehung zum alten Menschen schwerer, eine Grenze zu ziehen.
Ke: Hat sich Ihr Blick auf die Lebensphase Alter im Laufe Ihrer Tätigkeit verändert?
Re: Ja, ich nehme das Alter heute wesentlich vielfältiger und differenzierter wahr. Dafür bin ich dankbar. Ich bin ja mit einem eher negativen Altersbild groß geworden. Heute weiß ich mehr über die Schwierigkeiten des Alters, aber auch über seine Möglichkeiten. Weiter weiß ich durch die vielen Psychotherapien mit alten Menschen, dass wir bis ins hohe Alter in der Lage sind, uns zu verändern, um zum Beispiel mit Schwierigkeiten des Alters fertigzuwerden. Ich erinnere mich immer wieder spontan an Patienten, die Unglaubliches in ihrem Leben geleistet haben. Beispielsweise die Patientin, die im Krieg mit vier Geschwistern groß geworden ist. Die Mutter verstarb nach der Geburt des letzten Kindes. In der Folge war die Zeit voller Angst, auch vor den Nazis, da der Vater eine Behinderung hatte. Diese Angst, weggeholt zu werden, hat sie ein Leben lang begleitet. Aufgrund kleinerer Schlaganfälle schaffte sie es Ende 70-jährig nicht mehr, damit fertigzuwerden, und entwickelte eine Panikstörung. Sie machte sich, um nicht mehr Medikamente nehmen zu müssen, auf den Weg, suchte sich eine Psychotherapie und kam schließlich zu mir. Sie setzte sich mit ihrer (lebenslangen) Angst auseinander, verstand sich selbst besser und im Weiteren gelang es ihr trotz schwerer Erkrankung des Ehemannes, mit ihren Ängsten, unter anderem mit Humor, fertigzuwerden. Im Verlauf einer Therapie mit alten Menschen werden viele Ressourcen und Fähigkeiten deutlich. Dazu gehört aber meines Erachtens das Trauern über Verlorenes und nicht Gelebtes. In der Arbeit mit den alten Menschen muss ich mich aber auch immer wieder von einem negativen Sog befreien. In der Gerontopsychiatrie sehen wir vor allem chronisch schwer kranke Menschen und vielen ist auch nur sehr begrenzt zu helfen. Da muss ich mir immer wieder klarmachen, die Schicksale der Patienten in der Gerontopsychiatrie bilden nur einen kleinen Teil des Lebens von alten Menschen (etwa 5–10%) ab. Psychische Stabilität ist im Leben etwas immer wieder Herzustellendes. Jedes Lebensalter hat seine Belastungen, (unbewusste innere) Konflikte und Entwicklungskrisen.
Persönlich habe ich mich mehr mit meinen Eltern ausgesöhnt. Ich kann meiner Mutter überwiegend gelassener begegnen und meinen Vater habe ich für seine Fähigkeit, seine Erkrankungen anzunehmen und die Endlichkeit zu akzeptieren, sehr bewundert. Er ist 2016 verstorben. Zusätzlich gehe ich, zumindest glaube ich das, mit meinem eigenen Älterwerden, meinem älter werdenden Körper und mit meinen eigenen Krankheiten anders um. Ich antizipiere und akzeptiere mein Alter viel mehr als andere Menschen in meinem Umfeld.
Ke: Gibt es Momente, in denen Sie manchmal gerne mit Ihren Kolleg*innen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie tauschen wollen würden?
Re: Diese Frage finde ich spontan sehr interessant, ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mit den Kolleg*innen der Kinder- und Jugendpsychiatrie tauschen wollte.
Ke: Die Arbeit mit älteren Menschen ist immer auch ein Blick in die eigene Zukunft. Was lernen Sie in Ihrer Arbeit mit älteren Patientinnen über Ihr eigenes Älterwerden?
Re: Ich sorge mehr für mich vor, was ich mir im Alter wünsche, vorstelle, und schau, was ich dafür tun kann. Die Arbeit mit den älteren Menschen hat mich meine eigene Endlichkeit ebenfalls besser akzeptieren lassen. Krankheiten, Tod und Sterben gehören zu meinem Leben dazu. Das hilft mir immer wieder, den Tag, das Leben im Hier und Jetzt bewusst zu erleben und zu genießen. Ich bin auch dafür (meinen Patienten) sehr dankbar. Und ich glaube, es fällt mir leichter, (hochbesetzte) Ziele aufzugeben oder zu ändern. Auch ich brauche am Lebensende vermutlich Hilfe. Meine Familie und meine Freunde sind mir in meinem Leben sehr wichtig.
Ke: Gibt es sonst noch Aspekte, die Ihnen wichtig sind/die Sie den Leser*innen der PiA gerne mitteilen möchten?
Re: Aus meiner Sicht ist die Alterspsychotherapie insgesamt eine sehr dankbare – wenn auch teilweise eine sehr schwere – und lohnende Aufgabe.
Bezüglich weiterer Fortbildung und der Theorie kann ich die Bücher und Arbeiten von meinen Kollegen und Mentoren empfehlen wie zum Beispiel von Reinhard Lindner, Meinolf Peters und Axel Wollmer. Ich bin ihnen zu Dank verpflichtet.