Eva-Marie Kessler:

Kritischer Zwischenruf zur Corona-Pandemie: Ältere Menschen sind sehr viel mehr als »die Risikogruppe« (Abstract)

Wenn in der öffentlichen Debatte in Zeiten der Corona-Pandemie über ältere Menschen gesprochen wird, dann fällt regelhaft der Begriff der Risikogruppe. Ansteckungs- oder Sterberaten werden kaum berichtet, ohne dass fortgeschrittenes chronologisches Alter thematisiert wird (etwa »90% der Verstorbenen waren über 70 Jahre«). Die Rede von der »Risikogruppe ältere Menschen« scheint dabei oftmals – empirische Analysen stehen noch aus – in eine bestimmte mediale Bildsprache eingebettet zu sein. Diese reicht von gebrechlichen alten Menschen an Rollatoren bis hin zur bloßen Darstellung von Körperteilen wie etwa faltigen Händen oder Körperhinterseiten.
   Jetzt kommt vielleicht der Einwand: Aber sind nicht auch ältere Menschen in Anbetracht erhöhter Raten für Infektionen, schwere Verläufe und Sterblichkeit eine zentrale Risikogruppe? Und ist es nicht auch zu ihrem Schutz sinnvoll, immer wieder auf ihr erhöhtes Risiko hinzuweisen?
   Die Antwort auf beide Fragen kann aus gerontologischer Sicht nur differenziert ausfallen, lautet aber im Wesentlichen »Nein«. Warum? Sieben Argumente.

  1. Ältere Menschen sind sehr viel mehr als eine Personengruppe, die durch ihre Anfälligkeit für eine Viruserkrankung charakterisiert werden kann. Ältere Menschen sind Freund*innen, Erwerbstätige, Eltern, Partner*innen, Geliebte, Sportler*innen, ehrenamtlich Engagierte, Nachbar*innen, Großeltern etc. Entsprechend identifizieren sich ältere Menschen nicht in erster Linie über negativ konnotierte Eigenschaften wie alt, vulnerabel, schwach und schutzbedürftig (z.B. Rubin u. Berntsen 2006).

  2. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass neben Alter auch etwa Rauchen oder Diabetes erhebliche Risikofaktoren darstellen (Centers for Disease Control and Prevention 2020). Allerdings werden Menschen mit diesen Risikofaktoren im öffentlichen Diskurs nicht entlang der diesen Risikofaktoren zugrunde liegenden Kategorien (Raucher*innen, Diabetiker*innen) als Gruppe definiert. In allen Fällen birgt eine Kategorisierung von Menschen entlang epidemiologischer Statistiken die Gefahr einer Entmenschlichung, die sicherlich das Gegenteil einer differenzierten Kultur ist.

  3. Die pauschalierende Definition als Risikogruppe verengt darüber hinaus den Blick darauf, dass das Erkrankungsrisiko innerhalb der Altenbevölkerung sehr ungleich verteilt ist (Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie Sektion III 2020). Ältere Menschen sind in gesundheitlicher, psychologischer, sozialer und ökonomischer Dimension eine äußerst heterogene Gruppe. Nicht für jedes Individuum besteht ein gleiches Risikoprofil in Bezug auf eine Covid-19-Erkrankung und ihre Folgen. Nicht jeder ältere Mensch hat ein über den statistischen Durchschnitt hinausgehendes Risiko. Umgekehrt ist nicht jeder Mensch mit erhöhtem Risiko ein älterer Mensch.

  4. Die stereotype Darstellung als Risikogruppe verhindert ferner den Blick darauf, dass äußere Lebensumstände – und nicht allein die biologische Anfälligkeit für das Virus per se – erhebliche Risikofaktoren darstellen können. Die Tatsache, dass bis Mai 2020 zwischen 24% (in Ungarn) und 82% (in Kanada) der durch Covid-19 Verstorbenen Pflegeheimbewohner*innen waren (International Long Term Care Policy Network 2020), zeigt, dass das Zusammenleben und Gepflegtwerden in big boxes zusammen mit mangelnden Möglichkeiten für Infektionsschutz ältere Menschen erst zur Risikogruppe macht. Dem stehen ältere, selbstständig lebende Menschen mit eigenem Haus und Garten gegenüber, die ihr Infektionsrisiko in erheblichem Maße reduzieren können, indem sie ihr Leben aktiv an die Situation anpassen.

  5. Weiterhin suggeriert der Begriff der Risikogruppe, dass ältere Menschen dem erhöhten Risiko schutzlos ausgeliefert seien. Es gerät dabei aus dem Blick, dass ältere Menschen – wenn auch individuell in sehr verschiedenem Maße – über Ressourcen verfügen, mit dem erhöhten biologischen Risiko umzugehen. Dazu gehört nicht nur, dass Infektionsquellen vermieden werden können, weil weniger Menschen im Haushalt leben und für Berentete der Arbeitsplatz als Gefahrenquelle wegfällt. Fraglich ist, ob Kriegserfahrungen zu einer besseren Krisenbewältigung beitragen (wie teilweise dieser Tage in Interviews mit Expert*innen behauptet wird). Allerdings verfügt die Mehrheit älterer Menschen über vielfältige Bewältigungserfahrungen im Umgang mit altersbezogenen Einschränkungen und Verlusten (z.B. Staudinger 2000), die möglicherweise auch in der aktuellen Situation zum Tragen kommen. Bleiben diese psychologischen Potenziale älterer Menschen im öffentlichen Diskurs ausgeblendet, so bleibt das Bild über das Leben im Alter während der Corona-Pandemie unvollständig.

  6. Die Definition älterer Menschen als Risikogruppe birgt außerdem die erhebliche Gefahr der Stigmatisierung, die bei manchen älteren Menschen zu ungerechtfertigten Ängsten und Sorgen führen kann, bis dahin, dass das Haus nicht mehr verlassen wird und sogar notwendige Arztbesuche unterlassen werden. Jenseits von Ängsten kann die Wahrnehmung, eine Last für die Gesellschaft und jüngere Menschen zu sein, erhebliche Schuldgefühle hervorrufen, die sich in Form von Selbstbescheidung und gar Aufopferung im Dienste jüngerer Menschen manifestieren können. Eine weitere Reaktion auf die Wahrnehmung, unter die Kategorie »alt und vulnerabel« eingeordnet zu werden, führt wiederum bei anderen zu unbewusster Reaktanz (wenn etwa Empfehlungen zur sozialen Distanzierung ignoriert werden) oder aber auch zu offen geäußerter Wut und Auflehnung, insbesondere gegenüber paternalistischer Ansprache. Die empirische Forschung zu Altersbildern hat gezeigt, dass negativen Alterstereotypen ausgesetzt zu sein und diese zu internalisieren, zu psychologischen und gesundheitlichen Schäden führt, zu denen auch entzündliche Prozesse gehören (Kornadt et al. 2019).

  7. Aber auch für jüngere Menschen hat die Logik WIR (Jungen, Gesunden) versus SIE (Alten, Kranken) negative Konsequenzen. Nicht nur geht damit das Problem einher, dass sich jüngere Menschen in falscher Zuversicht und dem Gefühl, unverwundbar zu sein, wiegen. Es ist in der gerontopsychologischen Literatur umfangreich belegt, dass ein defizitorientiertes Altersbild (»Das bringt in meinem Alter doch alles nichts mehr!«) nachweislich zu einer »selbsterfüllenden Prophezeiung« wird und so die psychische und physische Gesundheit im Alter negativ beeinflusst (Kornadt et al. 2019). In der aktuellen Situation besteht die Gefahr, dass die jetzige Generation junger und mittelalter Menschen das defizitäre Altersbild der Risikogruppe verinnerlicht, und sie deshalb in der Zukunft weniger »erfolgreich« altern wird.

Schließlich noch die Frage: Wo im öffentlichen Diskurs sind auf einmal die positiven Altersbilder – von den vitalen, sozial integrierten und technikaffinen älteren Menschen (z.B. Kessler u. Schwender 2012)? Es wäre eine verkürzte Sicht, nun zu schlussfolgern, dass die positiven Altersbilder der letzten zwei Jahrzehnte unrealistisch und überzogen waren und sich nun die »wahren« (negativen) Altersbilder zeigten. Die aktuelle Situation zeigt dennoch, wie schnell unsere historisch noch jungen positiven Altersbilder in sich zusammenfallen und kulturell wesentlich tiefer verankerte Altersstereotype verstärkt in Erscheinung treten, wenn Ressourcen knapp werden und der Entscheidungsdruck hoch ist.
    Eine weitere Ursache für die Wiederkehr der »neuen alten« Altersbilder in der Corona-Pandemie steht möglicherweise auch damit in Zusammenhang, dass Menschen in einer Zeit leben, in der sie mit Vulnerabilität und Sterblichkeit konfrontiert sind. In solchen Situationen suchen Menschen nachweislich nicht nur »Sündenböcke«, sondern auch nach Möglichkeiten, sich innerlich vor der eigenen Bedrohung zu schützen (vgl. Terror Management Theorie; Martens et al. 2005). In diesem Sinne kann man das nun stattfindende Othering (»Gefährdet? Die Alten ja, aber wir doch nicht!«) als psychologischen Schutz betrachten, der sich allerdings nur kurzfristig positiv auf die psychische Stabilität auswirkt.
Was bedeutet das Gesagte nun für den öffentlichen Diskurs zum Thema Alter und Corona? Eine Diskussionskultur zu ermöglichen, die es erlaubt, dass sich Menschen aller Altersgruppen mit ihren eigenen Altersbildern, aber auch mit ihrer eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit auseinandersetzen, ist ein kulturell hochbedeutsamer Beitrag zu einer differenzierten und damit produktiven Bewältigung der aktuellen Krisensituation. Tatsächlich haben Menschen, wenn sie älter werden, in Bezug auf die Akzeptanz ihrer Endlichkeit einen Entwicklungsvorteil gegenüber jüngeren Menschen (Maxfield et al. 2007). Damit ist es auch an der Zeit, älteren Menschen in ihrer ganzen Vielfalt im öffentlichen Diskurs eine Stimme zu geben, statt nur über sie als Risikogruppe zu sprechen.

Literatur

Centers for Disease Control and Infection (2020). https://www.cdc.gov/mmwr/volumes/69/wr/mm6913e2.htm (Aufruf 24.05.2020).
Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) Sektion III (2020) Statement Öffentliche Kommunikation und Berichterstattung zu »Alter und Corona«. https://www.dggg-online.de/fileadmin/aktuelles/covid-19/20200401_Paper-Kommunikation-Alter-und-Corona-SektionIII.pdf (Aufruf 24.05.2020).
International Long Term Care Policy Network (2020) Mortality associated with COVID-19 outbreaks in care homes: early international evidence. https://ltccovid.org/wp-content/uploads/2020/05/Mortality-associated-with-COVID-21-May-5.pdf (Aufruf 24.05.2020).
Kessler EM, Schwender C (2012) Giving dementia a face? The portrayal of older people with dementia in German weekly news magazines between the year 2000 and 2009. J Gerontol B Psychol Sci Soc Sci 67B: 261–270.
Kornadt AE, Kessler EM, Wurm S, Bowen CE, Gabrian M, Klusmann V (2019) Views on Ageing: A Lifespan Perspective. Eur J Aeging [advance online publication]. doi.org/10.1007/s10433-019-00535-9
Martens A, Goldenberg JL, Greenberg J (2005) A Terror Management Perspective on Ageism. Journal of Social Issues 61(2): 223–239.
Maxfield M, Pyszczynski T, Kluck B, Cox CR, Greenberg J, Solomon S, Weise D (2007) Age-related differences in responses to thoughts of one’s own death: mortality salience and judgments of moral transgressions. Psychol Aging 22(2): 341–353.
Rubin DC, Berntsen D (2006) People over forty feel 20% younger than their age: Subjective age across the lifespan. Psychol Bull Rev 13(5): 776–780.
Staudinger UM (2000) Viele Gründe sprechen dagegen, und trotzdem geht es vielen Menschen gut: Das Paradox des subjektiven Wohlbefindens. Psychol Rundschau 51(4): 185–197.