Meinolf Peters: Editorial zum Themenheft “Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Fokus ”
Vor einigen Jahren geriet ich in ein Dilemma, das mich mehrere Monate beschäftigte und in dem die Grenzen zwischen Beruflichem und Persönlichem immer mehr verschwammen. Was war geschehen? Ich hatte einige Jahre eine ältere Patientin behandelt, die ich zugegebenermaßen sehr schätzte. Sie war in einer streng pietistischen Familie aufgewachsen, und schon in der Adoleszenz traten erste Probleme auf, die sie einmal für längere Zeit in die Psychiatrie brachten. Nach manchen Umwegen war sie doch noch Lehrerin für Religion, Philosophie und Latein geworden, aber auch nach der Pensionierung blieb sie vielfältig kirchlich, sozial und friedenspolitisch aktiv und engagiert, immer mit ihren zahlreichen Problemen kämpfend. Dann erkrankte sie an Parkinson, und als ich eines Tages aus einem Urlaub zurückkam, erfuhr ich, dass sie in der Zwischenzeit in einem Pflegeheim untergebracht worden war. Ich telefonierte einige Male mit ihr, und einmal besuchte ich sie, ungewöhnlich genug. Es verging etwa ein Jahr, als ich eine Todesanzeige erhielt, und es stand für mich außer Frage, zur Beerdigung zu gehen, was ich bis dahin nie bei einer Patientin gemacht hatte. Nun, so dachte ich, sei der Abschied vollzogen und die Sache abgeschlossen, doch weit gefehlt. Nach einiger Zeit erhielt ich einen Brief von der besten Freundin der verstorbenen Patientin. Darin schrieb sie, man sei bei den Ausräumarbeiten der Wohnung der Verstorbenen, die keine nahen Verwandten hatte, auf eine umfangreiche Sammlung von Tagebüchern und Briefen gestoßen, und dass sei doch eine Fundgrube, die tiefe Einblicke in ein außergewöhnliches Leben, das durch Religion geprägt war, an der sie doch gleichzeitig so gelitten hatte, gewähre. Da ich wohl in den letzten Jahren ihres Lebens die wichtigste Person gewesen sei, die bereits viel über dieses Leben wisse, hätten sie – ein paar Freundinnen – vereinbart, mich zu fragen, ob ich dieses Material nicht auswerten wolle. Ich war überrascht, berührt, begeistert, aber im gleichen Augenblick kamen auch die Zweifel: Hatte ich mich nicht zu sehr in das Leben der Patientin begeben, dass ich nun so wahrgenommen wurde? Und: Durfte ich das, war das erlaubt, würde ich damit nicht gegen die Schweigepflicht verstoßen? Ich nahm Kontakt mit der Freundin auf, einer ebenfalls schon betagten ehemaligen Studienrätin, und wir trafen uns in ihrem beeindruckenden Haus, einer bürgerlichen, von Bäumen zugewucherten Villa, das Zeitgeschichte atmete, und wir sprachen lange darüber. Kurzum, nach langem Überlegen und zahlreichen Gesprächen auch mit Kolleginnen und Kollegen nahm ich von dem Angebot Abstand. Die Freundin hatte ohnehin zu bedenken gegeben, dass man vielleicht theologisches Wissen brauche, um ein solches Leben gut einordnen zu können, und hatte mir damit ungewollt einen Ausweg gewiesen, denn über dieses Wissen verfügte ich nicht. Ein wenig war es natürlich auch eine Ausrede, die es mir erlaubte, mich aus einem Dilemma zu befreien, aber manchmal bedauere ich den Verzicht bis heute.
Mich hatte schon vor diesem Ereignis die Frage beschäftigt, wie eigentlich die Rolle des Therapeuten als Person in der Therapie Älterer zu verstehen sei, und jetzt rückte diese Frage für mich noch stärker in den Vordergrund. Natürlich war das, was ich mit der geschilderten Patientin erlebt hatte, eine Ausnahme, aber Ausnahmen enthalten zumeist auch Exemplarisches und verweisen auf Grundsätzliches. Und auch die geschilderte Episode enthält etwas von dem, was in manchen Behandlungen Älterer aufzufinden ist, wenn auch vielleicht oft mehr verborgen und unbemerkt. Aber ältere Patienten ziehen uns manchmal stärker als Person in ihr Leben hinein, als es in den meisten anderen Therapien der Fall ist. Die oft beeindruckenden, durch historische Umstände geprägten Lebensgeschichten, die sie mitbringen, ihre oft existenziellen Situationen, in die sie hineingeraten sind, und die – ausgesprochene oder unausgesprochene – Frage danach, was das Leben eigentlich ausmacht, alles das kann auch Therapeuten bewegen. Man könnte sagen, dass beide, Therapeut und Patient, in gewisser Weise »in einem Boot sitzen«. Die professionellen Grenzen können dann durchlässiger werden und das Persönliche durchscheinen, eine Situation, auf die die therapeutischen Schulen keine ausreichende Antwort zu bieten haben. Für mich steht fest, dass Ältere uns dazu bringen, über die Frage der Grenzen zwischen Professionalität und Persönlichem neu nachzudenken: Wie weit können wir zulassen, dass wir persönlich involviert werden, müssen wir es überhaupt zulassen, und wenn ja, wie können wir damit umgehen? Und wie können wir es dennoch schaffen, eine professionelle Haltung beizubehalten? Ich möchte dieses Heft der Psychotherapie im Alter nutzen, um diese Fragen zunächst einmal zu formulieren und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, Fragen, auf die es keine klaren Antworten gibt, für die aber eine reflexive Kompetenz geschaffen werden kann.