Bertram von der Stein: Editorial zum Themenheft “Vererben und Erben”
Beim Erben geht es um mehr als nur um Materielles. Denn Materielles steht symbolisch für positive und negative Beziehungsqualitäten und Wertschätzungen. Erben und Vererben bedeutet Loslassen und Annehmen, aber auch Nicht-Loslassenwollen und gewaltsame Aneignung sowie mögliche Ablehnung. Etwas vererben bedeutet, sich mit der eigenen Generativität auseinanderzusetzen.
Erben und Vererben sind immer mit der Kränkung verbunden, nicht selbstbestimmt zu sein: Jeder Erblasser muss mit dem Tod alle Besitztümer abgeben. Auch wenn nach Freud (1915b, 350) das Unbewusste nicht an den eigenen Tod glaubt, kann niemand dieser Realität ausweichen. Da Tod Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit bedeutet, kann der Akt des Vererbens ein letzter Versuch sein, mit einem Testament, das heißt im konkreten wörtlichen Sinn mit einem Vermächtnis, für die nachfolgenden Generationen machtvoll Weichen zu stellen. Man kann mit Stiftungen und Denkmälern auch in der Zukunft namentlich präsent bleiben.
Gerechtigkeit sucht man bei Testamenten oft vergeblich, sie ist eine Fiktion, wie schon in bekannten biblischen Erbschaftsdramen nachzulesen ist. Nicht ohne Grund erwähnen zwei Autorinnen dieses Themenhefts die Ringparabel.
Die Erben können sich nicht der Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren entziehen, selbst wenn sie ein materielles Erbe ausschlagen. Für Erben ist die Hinterlassenschaft eine Konfrontation mit unbewussten Todeswünschen gegenüber den Eltern und eine Herausforderung an die Fähigkeit, rivalisieren und teilen zu können. Damit verbunden ist oft eine schmerzliche Rückblende in die eigene Kindheit mit der Würdigung der Beziehung zu maßgeblichen Personen und eine Reflexion über elterliche Gerechtigkeit. Somit sind existenzielle Themen berührt.
Was hat Erben mit dem Alter zu tun? Diese Frage hilft, aus einer Vielzahl von Gesichtspunkten eine Auswahl zu treffen, die sich auch in diesem Heft wiederfindet. Die Zukunft schrumpft mit zunehmendem Alter. In Psychotherapien mit Älteren brechen in Bezug auf das Thema Erben immer wieder zentrale Beziehungskonflikte auf, oft im Rahmen einer bilanzierenden Lebensbetrachtung, oft in Form von zerstörerischen Familienkonflikten. Aus Konfliktlagen lassen sich Leitfragen ableiten, welche die Themen dieses Heftes berühren:
Was wird geerbt und vererbt? Diese Frage weist auf Startbedingungen im Leben hin. Erben und Vererben beziehen sich neben transgenerationaler Weitergabe materieller Güter auch auf Immaterielles und auf Eigenschaften in biologischer, ethnischer und kultureller Hinsicht. Keiner kann genetische Anlagen ablegen, diese betreffen körperliche und psychische Merkmale einschließlich der Disposition zu Erkrankungen. Zwar gibt es das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nicht mehr, gleichwohl sind neuropsychiatrische Erkrankungen wie angeborene Minderbegabung, Schizophrenie, Zyklothymie, Epilepsie (erbliche Fallsucht), Chorea Huntington (erblicher Veitstanz), erbliche Blindheit und Taubheit sowie eine postulierte Disposition zum chronischen Alkoholismus bis heute mit Diskriminierungen verbunden. Bekanntermaßen fußen auch Antisemitismus und Rassismus auf einem pervertierten Verständnis von Vererbung.
Jeder ist auch Erbe einer psychohistorischen Situation, wofür in diesem Rahmen das Stichwort »Transgenerationale Weitergabe von Trauma und Schuld« ausreichen möge. Trauer über verlorenes materielles und kulturelles Erbe kann für die Nachkommen erdrückend sein. Das Buch von Friedrich Torberg Die Tante Jolesch über das in der NS-Zeit vernichtete Wiener Judentum oder das Buch von Marion Gräfin Dönhoff Namen die keiner mehr nennt über das Ostpreußen vor dem Zweiten Weltkrieg sind nur zwei Beispiele von vielen.
Wie sind die Umstände des Erbens? Die Art und Weise wie und ob Testamente verfasst werden und wie ein Testament auf Erben wirkt, lässt Rückschlüsse auf die Charakter- und Familienstruktur von Erblassern und Erben zu. Angelehnt an Riemann (1961) und König (1995) lassen sich Konflikttypen durchdeklinieren: Menschen mit depressiver Persönlichkeitsstruktur verteilen schon vor ihrem Tod Hab und Gut; zwanghaft akzentuierte wollen alles bis ins Letzte regeln und sind um absolute Gerechtigkeit bemüht; histrionisch akzentuierte Persönlichkeiten äußern ihren letzten Willen spontan, vage und widersprüchlich; und narzisstisch akzentuierten Personen geht es um ihren Nachruhm und weniger um die Erben. Manche Ältere wollen die Ressourcen für die Zukunft selbst aufbrauchen (King 2020, 25), ein Vorwurf, der in der Bewegung »Fridays for Future« gegenüber der älteren Generation erhoben wird. Dass Erblasser auf Borderline-Niveau und solche mit dissozialen Zügen sich unbewusst oder bewusst an den Nachkommen rächen wollen, indem sie zum Beispiel Schulden vererben oder rivalisierende Erben gegeneinanderhetzen, ist bekannt. Spaltungsagieren kann über den Tod hinaus Hass lebendig halten.
Welche Familiendynamik spiegelt sich in Erbvorgängen wider? Hat man es mit strengen traditionsgebundenen patriarchalischen Familien zu tun? Spielt Migration eine Rolle? Treten alte schon überwunden geglaubte Konflikte in Scheidungsfamilien und Patchworkfamilien wieder auf? Werden alleinerziehende Mütter und Alleinlebende bei Erbschaftskonflikten benachteiligt? Wie läuft ein Erbschaftsvorgang in Adoptiv- oder Pflegefamilien ab? Auch das Verhalten der Erben gibt tiefen Einblick in ihre Psyche und in Familiendynamiken. Will man ein Erbe dankbar annehmen oder es verweigern? Kann man mit Geschwistern und Miterben produktiv rivalisieren oder kommt es zu destruktivem Erbschaftsstreit? Kann man das Ererbte weiterentwickeln oder hat man das Gefühl, der Erbschaft nicht gerecht geworden zu sein, sie gar verschleudert zu haben?
Bleibt die Frage, ob Erben auch gelingen kann. Mögliche Erfolgskriterien könnte die Fähigkeit sein, über die Begrenztheit alles Lebendigen zu trauern, sich der Realität des eigenen Todes zu stellen und nicht die nachfolgende Generation dafür ursächlich verantwortlich zu machen, selbst wenn der Elternmord in der unbewussten Fantasie aller Menschen existiert. Um das Ererbte zu bewahren, gilt es, dieses zu verändern und es sich anzueignen oder es abzulehnen und es anderen zu überlassen. Letztlich ist die Annahme der eigenen Endlichkeit, wie Loewald (1988) und Blaß (2020, 38) betonen, eine Voraussetzung dafür, dass die nächste Generation ihr eigenes Leben mit dem elterlichen Erbe kreativ gestalten kann. Dafür müssen infantile Omnipotenzfantasien aufgegeben werden; eine Entwicklungsaufgabe für Erblasser und Erben, für alte und junge Menschen gleichermaßen.
Bertram von der Stein (Köln)
Literatur
Blaß H (2020) »Nimm dir das Leben und gibs nie/auch wieder her«. In: Moeslein-Teising I, Schäfer G, Martin R (Hg) (2020) Generativität. Gießen (Psychosozial-Verlag) 29–43.
Dönhoff M (1962) Namen die keiner mehr nennt. Düsseldorf/Köln (Diederichs).
Freud S (1915b) Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X: 324–355.
King V (2020) Generativität und die Zukunft der Nachkommen. In: Moeslein-Teising I, Schäfer G, Martin R (Hg) (2020) Generativität. Gießen (Psychosozial-Verlag) 13–28.
König K (1995) Charakter und Verhalten im Alltag. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Loewald HW (1988) Termination analyzable and unanalyzable. Psychoanal Std Child 43: 155–166.
Riemann F (1961) Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. München/Basel (Reinhard).
Torberg F (1975) Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. Wien (Buchgemeinschaft Donauland).