Christiane Schrader & Almuth Sellschopp: Editorial zum Themenheft
“Corona auf und jenseits der Couch”

Eigentlich hatten wir anderes geplant: Das 32. Symposium Psychoanalyse und Altern am 5. Dezember 2020 hätte das Thema »Schlaf und Traum im Alter« entfalten und zur Diskussion stellen sollen. Die Referentinnen und Referenten waren bereits eingeladen, die Programmplanung abgeschlossen und der Flyer in Vorbereitung, als klar wurde, dass wegen der Coronapandemie mit einer Präsenzveranstaltung nicht sicher zu rechnen sein würde. Uns dieser Notwendigkeiten fügend, verschoben wir »Schlaf und Traum« auf das Jahr 2021. Doch schließlich regte sich in unserer Arbeitsgruppe Widerstand gegen das ewige Aufschieben oder gar Streichen von Veranstaltungen. So kamen wir schnell überein, 2020 eine Alternative im Onlineformat anzubieten: eine Alternative, die nicht nur leicht zugänglich sein, sondern auch die Coronathematik mit der des Alterns und der Psychoanalyse verbinden sollte. Obwohl wir nur online präsent sein, miteinander in Kontakt kommen und diskutieren konnten, ist eine Palette hochinteressanter Beiträge mit klinischen, sozialen und historischen Perspektiven entstanden. Diese Beiträge finden Sie im vorliegenden Heft.
   Bereits im Vorfeld inspirierten die Veränderungen der äußeren und klinischen Realität durch die Pandemie viele Kolleginnen, Kollegen und Gruppen, dem Austausch hierüber Raum zu geben. Das Diskussions- und Reflexionsbedürfnis wuchs mit der Notwendigkeit, nicht nur in unserem alltäglichen Leben, sondern auch in unserer klinischen Arbeit der Gefährdung durch das Virus zu begegnen, ohne das Verständnis dadurch angestoßener unbewusster Prozesse zu vernachlässigen. Das psychoanalytische Setting mit seinen Konstanten erleichtert uns die Orientierung im komplexen Verstehensprozess bewusster und unbewusster Fantasien sowie der inneren und äußeren Welt. Pandemiebedingte Settingveränderungen behindern den Rückbezug unserer Wahrnehmungs- und Orientierungsprozesse auf die vertrauten Konstanten des Settings und verlangen uns ab, jede Settingveränderung und deren Interaktionen mit der unbewussten Psychodynamik des Feldes neu zu reflektieren. Deshalb, so vermuten wir, war in allen uns bekannten Intervisions- und Arbeitsgruppen der Wunsch nach Austausch über diese neuen Erfahrungen groß, zudem diese permanente Aufgabe bisweilen zu einer Art »pandemic fatigue« (Warsitz) führte und das Thema Corona in seiner medialen Omnipräsenz einem manchmal zu viel wurde.
   Pandemiebedingte Settingveränderungen verunsicherten und inspirierten aber auch unsere Patientinnen und Patienten. Diese Einflüsse waren nicht nur zerstörerisch, für manche eröffneten oder begünstigten sie neue Möglichkeiten. So beobachtete eine von uns (CS), dass zwei ihrer schwer und früh traumatisierten Patientinnen, die aus nachvollziehbaren Gründen nicht in die Praxis kommen, sondern lieber telefonieren wollten, von dieser Settingveränderung eine Weile profitierten. Denn so entstand eine Art konkreter Übergangsraum, in dem sie die unbewusste Destruktion und ihre eigene Erwartung, von anderen Menschen schlecht be- oder gar misshandelt zu werden, besser auf Abstand halten und kontrollieren konnten. Das ermöglichte der einen Patientin zum Beispiel die Beschäftigung mit eigenen schuldhaften Anteilen und Handlungen, »über die ich sonst nicht hätte sprechen können, ich hätte mich zu sehr geschämt«. Die andere Patientin gestattete sich unter diesen Bedingungen auf ihrer eigenen Couch regressive Wünsche nach vertrauensvollem Halt, nach Anlehnung und Geborgenheit, vor denen sie bislang immer geflüchtet war. In beiden analytischen Therapien waren damit stark abgewehrte und angstbesetzte Erfahrungen und Fantasien erlebbarer und dem Verständnis zugänglicher geworden. Dass es auch zu ganz anderen Reaktionen kommen kann, zeigen die Beiträge dieses Hefts.
   Inspirierend für das von uns entwickelte Tagungsprogramm war die Übersichtsarbeit von Gertraud Schlesinger-Kipp zur »Gegenwärtigkeit in Zeiten der Pandemie«. Die Autorin greift die zentrale Frage auf, wie die Gegenwärtigkeit in der analytisch-therapeutischen Situation durch die faktische wie auch symbolische Präsenz des Virus beeinflusst wird. Was, wenn zum Beispiel Abschirmung nach außen oder Leugnung der Gefährdung die Realitätsprüfung behindern und an die Stelle der notwendigen Reflexions-, Modifikations- und Trauerprozesse treten, die doch Bedingungen erfolgreicher analytischer Arbeit in dieser Zeit sind (wären)? Exemplarisch verdeutlicht die Autorin dies an ihren Beobachtungen der Infiltration der Übertragung durch eine Dynamik der ödipalen Umkehrung. In Analysen mit jüngeren Patientinnen und Patienten versuchen diese die ältere Analytikerin angesichts ihrer Vulnerabilität zu schützen. Denn die Behandlungssituation bringt eine besondere Spannung mit sich, weil die Ansteckungsgefahr von beiden ausgehen und beide betreffen kann.
   Die folgenden Beiträge sind Kommentare aus der Perspektive von Hochaltrigen und »jungen Alten«. Bedacht werden Einflüsse historischer Erfahrungen sowie Modifikationen der analytischen Situation.
   Letzteren widmet sich Rolf-Peter Warsitz in seinen Überlegungen zur Situation der klinisch-psychoanalytischen Praxis. Er beschreibt in einem eindrucksvollen klinischen Beispiel, wie die Settingveränderung in der Praxis zu einem Erlebnis des Verlassenseins bei der Patientin führte und eine frühe traumatische Situation und Angst aktualisierte, die bis dahin völlig verborgen geblieben war. Warsitz beobachtete an sich, dass ihn die permanente Spannung zwischen der Notwendigkeit, die Beziehungsarbeit in der analytischen Situation aufrechtzuerhalten, und jener, der Toxizität des Virus Einhalt zu gebieten, sowie die dauernde Reflexions- und Symbolisierungsaufforderung des modifizierten Settings zu einer Art pandemic fatigue getrieben haben. Denn weder die Aerosole noch das Luftreinigungsgerät oder das Lüften während der Sitzung sind einfach nur da. Sie werden eingebunden in die unbewusste Dynamik und bewegen sich damit zwischen Interpretation und Verdinglichung. Gleichzeitig eröffnen sie aber auch die Perspektive, künftig mehr auf psychische Aerosole nicht nur in der therapeutischen Situation, sondern auch in Gruppen- und Gremiensitzungen zu achten. Hier können sie zum Beispiel latent gebliebene Konfliktpotenziale anfachen und Ermüdungsbrüche einer fragil gewordenen Abwehrstruktur erzeugen.
   Helmut Luft verkörpert in seinem Beitrag den »Vorteil« des Hochaltrigen, über deren leidvoll erlebte Erfahrungen zu sprechen. Er hat nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitmenschen beobachtet und befragt und unterschiedliche Reaktionen auf Corona in den Kontext anderer Probleme des Alterns gestellt. Rückzug und Verleugnung erschwerten die realistische Einschätzung der Gefahr. Abnehmende Mobilität und die Befürchtung, Vorsichtsmaßnahmen nicht umsichtig genug anzuwenden, begünstigten Rückzug und die Angst, von Jüngeren nicht gehört oder im Hilfsbedürfnis abgewiesen zu werden und so in einen Zustand des subjektiv empfundenen »Entmündigt-Werdens« zu geraten. Positiv vermerkt der Autor dagegen eine gewisse Entlastung, weil im Alter keine Leistung mehr abgefordert wird. So können Selbstpflege, individuelle Kreativität und die Auswahl von Themen und Beschäftigungen, die der eigenen Reifung und Weiterentwicklung dienen, mehr Raum erhalten und Möglichkeiten des Lernens eröffnen, des emotionalen sowie neuronalen Wachstums.
   Bertram von der Stein formuliert eine mögliche Perspektive junger Alter. Er reflektiert die Polarisierung zwischen heldenhaftem Altruismus und hedonistischer Dissozialität bei den jungen Alten in helfenden Berufen (»Helden des Alltags«), die durch die Anforderungen der Pandemie unter das Brennglas des Autors geraten sind. Er empfiehlt den jüngeren Alten, nicht nur ihre eigenen Grenzen und Ressentiments, sondern auch die Verlockungen des Heldentums realistisch zu sehen.
   Der Beitrag von Hartmut Radebold, vor der zweiten Welle verfasst, beschreibt Einflüsse des Alters, Geschlechts, Selbstbildes und zeitgeschichtlicher Prägung auf die Pandemie-Reaktionen. Er führt die geringeren Infektionszahlen Deutschlands im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf eine Art Trotzreaktion der Deutschen zurück: »So vieles hab ich überlebt, soll ich jetzt an Covid-19 krepieren, nein.« Die Alten bemühten sich, vorgeschriebene Regelungen einzuhalten und Einschränkungen zu akzeptieren und konnten die pandemiebedingten Einschränkungen besser akzeptieren als Jüngere. Radebold plädiert dafür, bei den notwendigen Maßnahmen gezielter auf die Erfahrungen und Lebensbedingungen gesellschaftlicher und generationeller Teilgruppierungen einzugehen und diese in ihren Bedürfnissen, Sorgen und Befürchtungen anzusprechen. Denn bei ihnen werden nicht nur belastende traumatische Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit wiederbelebt, sondern auch das Schweigen und die Abkapselung. Die soziale Isolierung könnte durch Gesprächs- und Beziehungsangebote in Familien und in Pflegeheimen gemildert werden.
   Das unausgesprochene Fazit dieser Onlineveranstaltung lässt sich mit den Worten von Hans-Jürgen Wirth zusammenfassen:

»Dass es gerade jetzt darum geht, auch im psychoanalytischen Umgang mit Patienten ein Menschenbild herauszuarbeiten, das ›die enorme Verletzlichkeit des Menschen‹ deutlich macht, damit seine Sensibilität und sein Angewiesensein auf sozialen Austausch, auf Körperkontakt und Mitgefühl, entwickelt sich zu einem allmählichen Bewusstsein, dessen weitreichende Konsequenzen für jeden von uns, sei es im beruflichen oder in privaten Bereichen, die Entwicklung eines neuen bewussteren Umgang miteinander erfordert« (Wirth 2020, 24).

Diese Verletzlichkeit kommt auch in einem Brief zum Ausdruck, in dem uns ein Kollege über seine Impfung berichtet hat. Dieser Brief hat das Titelbild und den Text zum Titelbild dieser Ausgabe inspiriert. Zwei freie Beiträge runden das Heft ab.
   Wir hoffen, dass wir am 3. und 4. Dezember 2021 in Kassel zum 33. Symposium Psychoanalyse und Altern zum Thema »Schlaf und Traum im Alter« wieder persönlich und offline mit Ihnen zusammenkommen können.

Christiane Schrader & Almuth Sellschopp

Literatur

Wirth H-J (2020) Die Corona-Pandemie als Herausforderung für Psyche und Gesellschaft. Überlegungen aus Sicht der psychoanalytischen Sozialpsychologie. DGPT-Mitgliederrundschreiben 03/2020.