Kritischer Zwischenruf zum Themenheft

“Menschenrechte”

Meinolf Peters:

Solidarität mit den Alten, Solidarität der Alten. Zum Umgang mit der Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie stellt für uns alle eine große Herausforderung und Gefahr dar. Wer glaubt, es handele sich lediglich um ein »Grippchen«, sollte spätestens jetzt, da neue Forschungsergebnisse vorliegen, seine Haltung revidieren. Die Metaanalysen von Levin et al. (2020) und Meyerowitz-Katz u. Merone (2020) bestätigten die von dem Virologen Hendrik Streeck aufgrund der Ergebnisse der Heinsberg-Studie (Streeck et al. 2020) geäußerte Vermutung, dass die Sterblichkeit bei Covid-19 im Vergleich zur Influenza um etwa das Vierfache erhöht ist. Angesichts dieser Tatsache sollten wir die Diskussion darüber intensivieren, wie wir in unseren Gesellschaften mit der Pandemie umgehen können. Die Zweifel wachsen, ob ein kurzfristiger Lockdown, wie er jetzt im November 2020 wieder verordnet wurde – wie oft denn noch? – ausreicht, dauerhaft Kontrolle zurückzuerlangen. Hendrik Streeck betont immer wieder die Notwendigkeit, sich auf einen Marathon einzustellen, das heißt, wir brauchen eine längerfristige Strategie, die bisher noch fehlt.
   In dem von Streeck zusammen mit Jonas Schmidt-Chanasit und der KBV vorgelegten Positionspapier (2020) (unterzeichnet von zahlreichen medizinischen Verbänden sowie der Bundespsychotherapeutenkammer) wird ein von der Bundesregierung bisher vernachlässigter Aspekt stärker in den Vordergrund gerückt, nämlich die Notwendigkeit eines größeren Schutzes von Risikogruppen. Was genau heißt das? Es bedeutet unter anderem, mehr Ressourcen darauf zu verwenden, die Risikogruppen zu schützen, und das sind vor allem die Älteren. Reflexartig wird sofort eingewandt, dies laufe auf eine Stigmatisierung und Diskriminierung der Alten hinaus. Aber ist das so? Meine Kollegin Eva-Marie Kessler (2020), unter anderem Mitherausgeberin der PiA, hat eine Stellungnahme verfasst, die zu Recht viel Aufmerksamkeit erfahren hat. Sie weist darauf hin, dass jetzt von den Älteren als Risikogruppe gesprochen und damit ein schon überwunden geglaubtes negatives Altersbild erneut geweckt würde. In Wirklichkeit seien die Älteren doch sehr unterschiedlich und verfügten über hohe Kompetenzen und Ressourcen, um mit der Situation zurechtzukommen und über ihr Verhalten zu entscheiden. Wer möchte ihr da widersprechen? Und doch stellt sich mir die Frage, ob diese Sichtweise nicht zu kurz greift. Müssen wir nicht Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, dass der Verlauf von Covid-19 in hohem Maße altersabhängig ist, wie Levin et al. (2020) in ihrer Metaanalyse nachgewiesen haben? Danach geht die Infektionssterblichkeit bei den Jungen gegen Null, um dann ab etwa 50 Jahren immer stärker anzusteigen: 50 bis 59 Jahre 0,3%, 60 bis 69 Jahre 1,3%, 70 bis 79 Jahre 4,6% und über 80 Jahre 25%. Selbstverständlich gibt es auch gefährdete Junge, die ebenso zu schützen sind, aber die Vulnerabilität steigt nun mal mit dem Alter an. Im regelmäßig erhobenen Alterssurvey sagen von den 55- bis 69-Jährigen fast 70%, an mehr als zwei Krankheiten zu leiden, bei den 70- bis 85-Jährigen sind es über 80% (Mahne et al. 2017). Alter ist nicht gleich Krankheit, aber Krankheit gehört zum Altern. Sollte dieser Tatbestand nicht doch stärker berücksichtiget werden?
   Ich selbst bin Alterspsychotherapeut und Altersforscher, und mache mir durchaus Sorgen um die Alten, aber nicht nur darum, dass sie stigmatisiert werden, sondern auch, weil ich mich frage, ob sie ausreichend geschützt werden? Aber nicht das allein besorgt mich. Am Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit war ich Jugendforscher und habe mir einen Blick für diese Altersgruppe bewahrt, die nach meinem Dafürhalten zurzeit besonders unter Druck steht. Obwohl eine neuere Studie gerade dargelegt hat, dass die Jugend zum größten Teil die jetzigen einschränkenden Maßnahmen gutheißt und mitträgt (TUI-Studie 2020), wird weiterhin munter auf sie eingedroschen: Partygänger, vergnügungssüchtig, rücksichtslos, »so ist die Jugend«, heißt es herablassend, und anderes mehr. Dieses Lied ist nicht neu, die Stigmatisierung der Jugend ist mindestens so alt wie die Stigmatisierung der Alten. Die Jugend sei heruntergekommen und das Ende der Welt nah, soll angeblich auf einer 4000 Jahre alten Steintafel stehen – in Keilschrift, der ersten menschlichen Schrift überhaupt (Peters 2018); und auch Platon beklagte schon mit Blick auf die Jugend den Verfall der Sitten. Pandemiebedingt wird diesem ewig gleichen Lied nun eine neue Strophe hinzugefügt, und fast alle stimmen ein. Der SPD-Politiker Kevin Kühnert, selbst noch nicht allzu lange dem Jugendalter entwachsen, hat neulich widersprochen und ein interessantes Statement abgegeben (Augsburger Allgemeine 2020): Er wies darauf hin, dass die Straße schon immer der Ort der Jugend gewesen sei, erst recht in Zeiten, in denen ihnen keine anderen Räume zur Verfügung gestellt werden. Auf der Straße, so Kühnert, wo sich die Peergroups zusammenfinden, fänden wichtige Prozesse der Persönlichkeitsbildung statt. Dieser Einschätzung kann man nur beipflichten. Doch in der gegenwärtigen Diskussion ist dies eine einsame Stimme, und niemand kam bisher auf die Idee, Hygienekonzepte für Jugendtreffpunkte, Discos und Clubs zu entwickeln, also für Orte, die Jugendliche brauchen. Verzichtet, haltet euch zurück, schützt die Alten, so schallt es unentwegt durchs Land. Aber: Wird den Jungen nicht gerade etwas zu viel Solidarität mit den Älteren abverlangt? Wo bleibt die Solidarität der Alten mit den Jungen?
   Aktuell, Anfang November 2020, hat der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer einen »Tübinger Appell« vorgestellt, mitgetragen von örtlichen Wohlfahrtsverbänden und dem ärztlichen Direktor der Tübinger Universitätsklinik. Darin hat er einen strikten Schutz der Alten- und Pflegeheime vorgesehen (Schnelltests, regelmäßige Tests des Personals, FFP2-Masken für alle), was bislang keineswegs flächendeckend realisiert ist. Darüber hinaus richtet sich sein Appell aber an den allergrößten Teil der älteren Bevölkerung, nämlich diejenigen, die zu Hause leben. Auch diese haben zu einem Großteil Vorerkrankungen, die sie zu Risikopersonen werden lassen. Wer hat bisher an sie gedacht? Palmer schlägt nun Folgendes vor:

  • Alle über 65-Jährigen bekommen gratis von der Stadt FFP2-Masken.

  • Alle über 65-Jährigen werden gebeten, zwischen 9.30 und 11.00 Uhr einkaufen zu gehen; die Jüngeren sollen davor oder danach einkaufen.

  • Alle über 65-Jährigen werden gebeten, keinen öffentlichen Nahverkehr zu nutzen; stattdessen bekommen sie einen Zuschuss, um zum gleichen Preis Sammeltaxi fahren zu können.

Durch diese Maßnahmen könnte das Überspringen der Infektionen auf die Risikogruppen verringert und die derzeitige Fixierung auf die Infektionszahlen zurückgenommen werden[1]. Vielleicht wäre so ein Lockdown zu vermeiden. Ist das, was Palmer rät – nicht vorschreibt –, zu viel verlangt? Ist das schon Altersdiskriminierung? Der Seniorenbeirat der Stadt Tübingen trägt das Konzept mit, der Landesseniorenrat legte jedoch sofort Protest ein: Diskriminierung und Stigmatisierung der Alten, so schallte es zurück. Die Alten brauchten den Einkauf als soziales Erlebnis, so hieß es. Wirklich? Und die Jungen, brauchen die keine sozialen Räume? Übrigens kommen aktuelle Studien, die sich mit den psychischen Folgen der Pandemie befassen, zu dem Ergebnis, dass Ältere recht gut mit den Einschränkungen zurechtkommen; wer hingegen eher darunter leidet, sind die Jungen (Übersicht Riedel-Heller u. Bohlken 2020).
   Der Begriff der Generativität, der von dem großen Gerontologen Erikson (1970) eingeführt wurde, beschreibt eine reife Haltung älterer Menschen, die auf der Überwindung des individuellen Narzissmus und der Entwicklung von Sorge und Fürsorge für die jüngere Generation sowie die soziale Gemeinschaft beruht. Die Corona-Pandemie könnte eine solche Haltung befördern, und die Älteren könnten einen Beitrag zur Überwindung der Pandemie erbringen, wenn sie sich an die vorgeschlagenen Regeln hielten. Solidarität mit den Jungen, so wie Palmer sie vorschlägt, könnte eine wahrhaft generative Haltung zum Ausdruck bringen. Ich jedenfalls, selbst 68 Jahre alt, bin dazu bereit und fühle mich keineswegs stigmatisiert, denn eine solche Haltung beruht auch auf der Anerkennung der Realität des Alters.

Literatur

Augsburger Allgemeine (2020) Corona: Kevin Kühnert fordert mehr Verständnis für die Jugend. https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Corona-Kevin-Kuehnert-fordert-mehr-Verstaendnis-fuer-die-Jugend-id58444251.html (Aufruf 09.11.2020).
Erikson EH (1970) Identität und Lebenszyklus. Frankfurt (Suhrkamp).
KBV (2020) Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zur Strategieanpassung im Umgang mit der Pandemie. Evidenz- und Erfahrungsgewinn im weiteren Management der Covid-19-Pandemie berücksichtigen. https://www.kbv.de/html/48910.php (Aufruf 18.11.2020).
Kessler E-M (2020) Corona-Pandemie: Ältere Menschen sind sehr viel mehr als ›die Risikogruppe‹. Psychotherapie im Alter 17(3): 367–371.
Levin AT, Kensington BC, Walsch SP (2020) Assessing the Age Specificity of Infection Fatality Rates for COVID-19: Meta-Analysis & Public Policy Implications. https://doi.org/10.1101/2020.07.23.20160895
Mahne K, Wolff JK, Simonson J, Tesch-Römer C (Hg) (2017) Altern im Wandel. Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS). Wiesbaden (Springer).
Meyerowitz-Katz G, Merone L (2020) A systematic review and meta-analysis of published research data on COVID-19 infection fatality rates. https://doi.org/10.1101/2020.05.03.20089854
Peters Ch (2018) Warum die ›Jugend von heute‹ immer die schlechteste ist. https://www.welt.de/wissenschaft/article178647276/Soziologie-Warum-die-Jugend-von-heute-immer-die-schlechteste-ist.html (Aufruf 09.11.2020).
Riedel-Heller St, Bohlken J (2020) Psychische Folgen für Bevölkerung und medizinisches Personal. NeuroTransmitter 31(11): 38–42. https//:doi.org/10.1007/s15016-020-7561-3
Streeck H et al. (2020) Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event. https://doi.org/10.1101/2020.05.04.20090076
TUI-Stiftung (2020) Junge Deutsche: Solidarisch gegen Corona und für mehr Europa. https://www.tui-stiftung.de/media/jugendstudie-2020-der-tui-stiftung-junge-deutsche-solidarisch-gegen-corona-und-fuer-mehr-europa/ (Aufruf 09.11.2020).
Tübinger Appell (2020) Mit Bürgersinn und Verantwortung zusammenstehen. https://www.gea.de/neckar-alb/kreis-tuebingen_artikel,-t%C3%BCbinger-appell-mit-b%C3%BCrgersinn-und-verantwortung-zusammenstehen-_arid,6345732.html (Aufruf 09.11.2020).

 

[1] Inzwischen konnten in Tübingen die Neuinfektionen bei Alten radikal reduziert werden (Mitte Dezember).