Kritischer Zwischenruf zum Themenheft
“Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Fokus ”
Ingmar Hornke:
»Moral Injury«
Kommerzialisierung als Gewalt gegen die Hilfebeziehung?
Mit schweren Schicksalen, dramatischen Krankheitsverläufen sowie Unfallgeschehen und Straftaten konfrontiert zu werden und an ethisch besonders herausfordernden Behandlungs- wie Pflegeentscheidungen beteiligt zu sein, ist alltäglicher Bestandteil der beruflichen Hilfebeziehungen in Medizin und Pflege.
Situationen, die sich bei näherer Betrachtung oder offensichtlich als ethische Dilemmata darstellen, gehören genuin zu diesem Berufsfeld. Solche Begegnungen mit widerstrebenden Interessenlagen treten in Resonanz mit dem beruflichen Ethos und den je persönlichen Moralvorstellungen sowie Wertebildern aller Beteiligten. Als unangemessen erlebte Ansprüche von Patienten und Angehörigen sowie Konflikte zwischen diesen kommen genauso vor wie unterschiedliche Urteile und Entscheidungen durch die beteiligten beruflich Helfenden. Mangelnde Ressourcen, um das als richtig Erkannte umzusetzen, stellen weitere Herausforderungen für die eigene Moral dar. Vorgegebene Rahmenbedingungen werden dabei in hierarchischen und hochgradig arbeitsteiligen Strukturen umgesetzt.
Alltägliche Widersprüche und Konflikte zwischen eigenen Moral- und Wertvorstellungen und strukturellen Erwartungen an das eigene Handeln werden in den letzten Jahren zunehmend als »moralischer Stress« (engl.: moral distress) wissenschaftlich fokussiert (Eisele 2017; Monteverde 2019). Diskussionsschwerpunkt sind dabei die Reaktionen der Mitarbeitenden auf diesen Stress und die Stärkung ihrer Resilienz (Karakachian u. Colbert 2019). An evidenzbelegten Ursachen orientierte wirksame Maßnahmen dagegen fehlen allerdings bisher weitgehend.
Das Konzept der »Moralischen Verletzung« (engl.: moral injury) kommt ursprünglich aus dem Kontext der Kriegs- und Wehrpsychiatrie und beschreibt ein Schädigungsmuster mit großer psychiatrischer und sozialer Tragweite (Griffin et al. 2019; Dean et al. 2019). Kommt es in Kampfhandlungen oder in Behandlungs- beziehungsweise Pflegekontexten zu Situationen, in denen der Handelnde in Konflikt mit eigenen Moralvorstellungen gerät und sich gezwungen fühlt, gegen diese zu verstoßen, löst dies Schuld- oder Schamgefühle aus: Diese sind umso nachhaltiger, je intensiver das zugrunde liegende Dilemma und die Gleichzeitigkeit von Opfer- und Täterrolle von der handelnden Person erlebt wird (Yeterian et al. 2019).
Moralische Verletzungen werden bei Einsatzkräften seit dem Ersten Weltkrieg beschrieben. Sie führen oft zu schweren Depressionen, Substanzmissbrauch, Arbeitsunfähigkeit, sozialen Brüchen und gehen mit einer hohen Suizidalität einher (Yan 2016; Ames et al. 2019). Alle diese Befunde sind seit den letzten Jahren bei beruflich Pflegenden und Mitarbeitern in der Medizin im Vergleich zur Normalbevölkerung überrepräsentiert, ähnlich wie in Militär und Sicherheitsbehörden nach Einsatzgeschehnissen (Dutheil et al. 2019; Ford 2019; Frezza 2019). Der Diskurs zur Übertragung des Konzeptes der »Moralischen Verletzung« auf das Feld helfender Berufe befindet sich erst am Anfang und ist noch umstritten (Williamson et al. 2018; Dean et al. 2019).
Da erlebte Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang von Rollen- und Verantwortungsübernahme im Beruf die zentrale Noxe für dieses Schädigungsbild darstellen, kann es nicht überraschen, dass Veränderungen der modernen Medizin und Pflege das vermehrte Auftreten von zumeist als Burn-out, Depression und posttraumatische Belastungsstörung gedeuteten Befunden hervorrufen (Kopacz et al. 2019; Morley et al. 2019; Niconchuk u. Hyman 2020; Stehman et al. 2019; West et al. 2018).
Diese Störungen sollten im Licht der Erfahrungen aus der Wehrpsychiatrie neu gedeutet und bewertet werden, zumal nicht Angsterleben (PTBS), sondern Scham und Schuld für (Mit-)Täterschaft gegen die (Mit-)Menschlichkeit in einem vorgegebenen oder erlebten Zwang als ursächlich beschrieben werden (Koenig et al. 2019; Papazoglou et al. 2020). Dies gilt umso mehr, als im Alltag von Pflege und Medizin erniedrigendes Verhalten, Missachtung, Gewaltanwendung, als grausam erlebte Behandlungen oder Unterlassungen und Vernachlässigungssituationen entstehen können und erlebt werden (Cohen u. Ezer 2013; Jacobson 2009; Wolf u. Dabrowski 2016).
Verschärft wird dies durch die politisch getragene und gesellschaftlich hingenommene Entscheidung, im Zwiespalt zwischen begrenzten Ressourcen und steigendem Versorgungsbedarf, die Merkantilisierung und damit einhergehende Kommerzialisierung von »Gesundheitswirtschaft« und privatisierter Altenhilfe zur Effizienzsteigerung zu nutzen. Der fehlende gesellschaftliche Konsensprozess über die Notwendigkeit von Priorisierung verfügbarer Leistungen verstärkt diesen Befund. Die unmögliche Vermittlung zwischen den widersprüchlichen Logiken von merkantiler Organisation einerseits und mitmenschlicher Hilfebeziehung andererseits wird der Verantwortlichkeit des Einzelnen zugewiesen. Dieser Entzug von Solidarität zur Lösung der zugrunde liegenden Problematik sowie die politische Verweigerung zur konstruktiven Entwicklung von tragfähigen solidarischen Sorgekonzepten kann im Licht des Konzeptes der Moralischen Verletzung als strukturelle Gewaltanwendung und systematische Menschenrechtsverletzung angesehen werden.
Es scheint erforderlich, die evidente Traumatisierung von Mitarbeitenden auch im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortlichkeit für die Hilfebedürftigen auf der Basis des Konzeptes der »Moralischen Verletzung« zu analysieren und darauf aufbauend Hilfen, Gegenmaßnahmen und Präventionskonzepte zu entwickeln.
Literatur
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Yeterian JD, Berke DS, Carney JR, McIntyre-Smith A, St. Cyr K, King L, Kline NK, Phelps A, Litz BT, Members of the Moral Injury Outcomes Project Consortium (2019) Defining and Measuring Moral Injury: Rationale, Design and Preliminary Findings From the Moral Injury Outcome Scale Consortium. J Traumatic Stress 32(3): 363–372.