Reinhard Lindner & Tillmann Supprian: Editorial zum Themenheft “Psychosenpsychotherapie”

Die Behandlung schwerer psychischer Störungen und hier besonders derjenigen psychischen Erkrankungen, die im klinischen Diskurs immer noch unter dem Begriff der Psychosen zusammengefasst werden, hat eine wechselvolle Geschichte. Über lange Zeit führte die Abwägung der Gewinne gegenüber den Belastungen infolge einer Behandlung zu zwiespältigen Ergebnissen (Langegger 1983). Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben psychopharmakologische, sozialpsychiatrische und psychotherapeutische Behandlungsansätze deutlich zu einer Verbesserung der Möglichkeiten der Symptomreduktion, der sozialen Integration und der Beziehungsfähigkeit von Menschen mit Psychosen beigetragen. Dies geschah allerdings über viele Jahre in einem Klima der Feindseligkeit zwischen den beteiligten »Schulen« bzw. zwischen den Vertretern der zugrundeliegenden Menschenbilder und pathogenetischen Konzepte (z.B. Sarwer-Foner 1960). Vielleicht hatten es Psychiatrie und Psychotherapie in Deutschland auf diesem Gebiet auch besonders schwer nach der Vertreibung und Ermordung vieler Vertreterinnen und Vertreter der (psychoanalytischen) Psychotherapie durch die Nationalsozialisten und dem sehr langsamen Weg der Aufarbeitung der spezifischen Schuld führender Psychiater am Massenmord psychisch kranker Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus.
   Trotzdem gab es seit Mitte des 20. Jahrhunderts vielfältige theoretische und klinische Ansätze der Psychotherapie der Psychosen. Zu erinnern wäre hier unter anderem an Gaetano Benedetti (1920–2013) und an Stavros Mentzos (1930–2015), an die Systemiker um Helm Stierlin (1926–2021) und viele weniger bekannte Psychiaterinnen und Psychiater, die nach einem theoriegeleiteten Verstehen psychotischer Menschen suchten: individuumszentriert, konfliktorientiert und die umgebende Welt der Beziehungen beachtend. In den letzten Jahrzehnten kann eine gewisse Entspannung und gegenseitige Wertschätzung wahrgenommen werden, die sich auch in der S3-Leitlinie »Schizophrenie« niedergeschlagen hat (DGPPN 2019). Die verschiedenen Schulen der Psychotherapie wenden sich dem Thema mit wissenschaftlichem und klinischem Engagement zu, was unter anderem an der Gründung und Arbeit von spezifischen Ausbildungseinrichtungen und Fachgesellschaften deutlich wird, wie das Frankfurter Psychose-Projekt, die überregionale Weiterbildung in analytischer Psychosentherapie und der Dachverband der deutschsprachigen Psychosenpsychotherapie mit Sitz in Berlin. Die Psychosenpsychotherapie steht damit nicht im Gegensatz zur Pharmakotherapie und zu sozialpsychiatrischen Behandlungsformen; vielmehr entwickelt sich ein gewinnbringender Dialog, der über die pure Addition von Behandlungsmöglichkeiten hinaus zu einem Verständnis der gegenseitigen Einflüsse auf die jeweilige Behandlung und deren Ergebnisse führt.
   Die Psychosenpsychotherapie im Alter führt allerdings nach wie vor ein Schattendasein und dies sowohl auf der klinischen Ebene, messbar an der Zahl durchgeführter psychotherapeutischer Behandlungen, als auch auf der theoretischen und empirischen Ebene. Wir wissen noch nicht genug darüber, ob und wie alten Menschen mit Psychosen mittels Psychotherapie geholfen werden kann. Daher war es nicht einfach, dieses Heft der »Psychotherapie im Alter« zu konzeptionalisieren, theoretische und klinische Beiträge zu gewinnen. Etliche Anfragen wurden explizit mit dem Mangel an klinischer Erfahrung sowie fehlender empirischer und hermeneutischer Erkenntnis zur Psychosenpsychotherapie im Alter begründet. Es ist dennoch gelungen, Kolleginnen und Kollegen für Originalarbeiten zu gewinnen. Diese gestatten den Blick in bislang zugängliche »Schattenbezirke«, die bereits ausreichend beleuchtet sind, um kasuistisches, epistemologisches und empirisches Wissen sichtbar zu machen. Weiterhin im Dunkeln bleibt die Psychotherapie alter Menschen mit schizophrenen und affektiven psychotischen Störungen, die deswegen in diesem Heft unterrepräsentiert ist.
   Reinhard Lindner legt ein narratives Review der Literatur zur Psychotherapie der Psychosen im Alter vor und stellt fest, dass es zwar empirische Belege für spezifische psychosoziale Interventionen bei schizophrenen und wahnhaften Störungen im Alter gibt, die Befundlage bei den verhaltenstheoretischen Verfahren auch interessante Hinweise bringt, jedoch die psychodynamische Psychosenpsychotherapie in dieser Altersgruppe noch nicht einmal auf der Ebene kasuistischer Beiträge erscheint. Allerdings gäbe es psychodynamische Ansätze, die zu verfolgen, zu erproben und zu erforschen wären. Wie dies für die mentalisierungsbasierte Psychotherapie aussehen könnte, führt Meinolf Peters aus. Er kommt zu dem Schluss, dass gerade die Mentalisierungsförderung in vielfältigen professionellen Beziehungen der Altenhilfe Einzug halten sollte. Julia Christl und Tillmann Supprian erklären Grundlagen der psychopharmakologischen Behandlung psychotischer Störungen im Alter und machen deutlich, wie sehr Therapieadhärenz auf psychosoziale Interventionen im Sinne der Psychoedukation und der Social Skills Trainings angewiesen ist, das heißt eines theoriegeleiteten Verständnisses der therapeutischen Beziehung bedarf. Alexandra Wuttke-Linnemann wendet sich den psychotherapeutischen Möglichkeiten der Behandlung psychotischer Symptome (Wahn und Halluzinationen) bei Demenz zu und widmet sich besonders den Hilfen für Angehörige, die im Erlernen validierender Techniken bestehen können. Frank Schwarz, einer der Begründer der aktuellen analytischen Psychosentherapie, stellt die Kasuistik einer jahrzehntelangen Psychotherapie mit einer schizophrenen Patientin bis in ihr 70. Lebensjahr dar. Neben Einblicken in das psychodynamische Verständnis von Psychosen verdeutlicht der Autor, dass eine therapeutische Begleitung dazu beitragen kann, dass langjährige Beziehungen gelingen, der Wiederholungszwang destruktiver Beziehungsrückzüge abnimmt und auch große Aufgaben des Alterns durchaus bewältigt werden können. Ausgehend von seiner (berufs-)lebenslangen Erfahrung in der Psychosenpsychotherapie fragt Hans Red nach den humanistischen Grundlagen einer entwicklungsförderlichen Beziehung zu und mit alten Menschen. Hier werden anthropologische Grundsätze gelingender menschlicher Beziehungen aus Erfahrungen mit denjenigen Patienten entwickelt, die im Führen, Gestalten und Aushalten von interpersonellen Beziehungen immense Schwierigkeiten haben. Von Beate Joachimsmeier wird das SYMPA-Projekt vorgestellt, ein Praxisbeispiel einer auf systemischer Grundlage arbeitenden gerontopsychiatrischen Station mit einem besonderen Fokus auf dem Einbezug der Angehörigen in die stationäre Behandlung. Am Ende bricht Claas Happach eine Lanze für die Psychosenpsychotherapie im Alter.
Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren, die an diesem Heft mitgewirkt haben; besonderer Dank gilt Bertram von der Stein für die kreative Gestaltung und Kommentierung des Titelbildes. Dieses Themenheft der Psychotherapie im Alter hätte seinen Zweck erfüllt, wenn es den Austausch anregt zwischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die sich mit der Behandlung psychotischer Patienten befassen, und denjenigen, die sich mit der Behandlung alter Menschen auseinandersetzen. In Klinik, Theorie, Forschung und Praxis gibt es noch einiges zu tun! Packen wir es an!

Literatur

DGPPN (2019) (Hg) für die Leitliniengruppe »Schizophrenie«. Langfassung 2019, Version 1.0, zuletzt geändert am 15. März 2019, verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html (zuletzt aufgerufen 12.02.2022).
Langegger F (1983) Doktor, Tod und Teufel. Frankfurt/M (Suhrkamp).
Sarwer-Foner GJ (1960) The role of medication in psychotherapeutic interaction. Compr Psychiatry 1(5): 291-300.