19. Jahrgang 2022, Heft 1: Eine Institution stellt sich vor
Stefanie Martin:
Ernährungsversorgung auf einer geriatrischen Station
Sektion Geriatrie des Krankenhauses Barmherzige Brüder München
Manchmal duftet es nach warmen Waffeln, manchmal nach frisch gebackenem Gewürzkuchen, manchmal werden selbst gemachte Smoothies gereicht auf der Geriatrie im Krankenhaus Barmherzige Brüder München. Einmal in der Woche bereitet ein Team von Ernährungsberatern des ZEP (Zentrum für Ernährungsmedizin und Prävention) auf der interdisziplinären Geriatrie hochkalorische, eiweißreiche Leckereien zu. Die Sektionsleiterin Dr. Stefanie Martin und ihr Team verteilen den »Kraftikus« in den Patientenzimmern und ernten von ihren Patienten Begeisterung und strahlende Gesichter.
Was ist im Alter anders?
Insbesondere im Alter hat Ernährung einen wichtigen Stellenwert. Mangelernährung ist ein häufiges Krankheitsbild bei älteren und insbesondere bei hochaltrigen Patienten. Sie birgt ein hohes Risiko für funktionelle Einschränkungen durch Schwäche und Stürze. Bis zu zwei Drittel älterer Patienten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind von Mangelernährung betroffen – auch in unserer Klinik.
Wie erkennt man Mangelernährung?
Alle Patienten unserer Geriatrie werden mittels eines standardisierten Screenings auf Mangelernährung untersucht. Dabei fließen neben Körpergewicht und -größe auch wichtige Aspekte wie Schwere der Akuterkrankung oder Gewichtsverlust mit ein. Aber auch Demenzerkrankungen, körperliche Einschränkungen oder fehlende soziale Unterstützung können den Weg zum Kühlschrank, das Einkaufen und Kochen schwierig bis unmöglich machen. Eine Depression, soziale Isolation oder einfach nur die fehlende Gesellschaft beim Essen sind nicht selten Grund für eine Mangelernährung. Diese Aspekte finden in der geriatrischen Arbeit Berücksichtigung. Ein Team aus Pflegekräften, Therapeuten, Psychologen und Ärzten versucht, mit speziellen Screening- und Assessmentinstrumenten Ursachen zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern.
Mangelernährung, und dann?
Liegt ein Risiko oder sogar eine manifeste Mangelernährung vor, macht ein Team von Ernährungsberatern einen Vorschlag zum weiteren Ernährungsplan. In der Umsetzung ist dann aber auch logopädische, pflegerische und ärztliche Expertise gefragt. Denn nicht jede Nahrungskonsistenz ist aus schlucktherapeutischer Sicht indiziert, nicht jede Ernährungsform krankheitsbedingt medizinisch sinnvoll und nicht jedes Ernährungskonzept ist ohne Unterstützung durch Pflegekräfte umsetzbar. Einen sinnvollen gemeinsamen Nenner, der individuell auf den Patienten abgestimmt wird, suchen die Mitarbeiter in regelmäßigen Teambesprechungen. Dabei macht sich das Behandlungsteam beispielsweise Gedanken darüber, wer für den Patienten einkauft oder ihn beim Kochen unterstützt. Wer wird das Essen wegen des schlechten Zahnstatus klein schneiden oder pürieren? Wer erinnert ans Trinken oder wer hilft, den Trinkbecher zum Mund zu führen? Dafür sind individuelle, patientenorientierte Lösungen erforderlich.
Muskelmasse baut sich im Alter ab
Altersphysiologische Veränderungen wie eine relative Abnahme der Muskel- und Zunahme der Fettmasse kommen auf jeden Menschen im Alter zu. Durch den Abbau von Muskulatur (»Sarkopenie«) steigt das Risiko für Stürze. Daraus kann eine Einschränkung der Funktionalität resultieren, die die Autonomie des Patienten gefährdet.
Der wichtigste Baustein unserer Muskulatur ist Eiweiß. Eine proteinreiche Ernährung mit Hülsenfrüchten, Fisch, Fleisch, Eiern sowie Milch- und Getreideprodukten sowie ein begleitendes körperliches Training können dem Abbau von Muskulatur entgegenwirken. Die Ernährungsempfehlungen raten bei älteren Patienten zur erhöhten Eiweißzufuhr von 1,2 bis 1,5 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht.
Lieber häufiger und dafür weniger
Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des Ernährungszustandes älterer Menschen ist bereits die Verteilung der Mahlzeiten über den Tag. Standardportionen werden häufig als zu groß empfunden. Dann kann die Verteilung der Mahlzeiten auf häufigere und dafür kleinere Portionen hilfreich sein. Bei uns im Haus ist es möglich, Zwischenmahlzeiten zu bestellen, um dem »Hunger zwischendurch« entgegenzuwirken, falls vor einem zu groß ausgefallenen Mittagessen kapituliert wurde. Da die Mengen, die ältere Patienten zu sich nehmen, häufig insgesamt geringer sind als bei Jüngeren, macht es Sinn, hochkalorische Nahrungsmittel anzubieten oder zum Beispiel normale Suppen mit Energie liefernden Nährstoffen wie Maltodextrin anzureichern. Viele Gerichte lassen sich auch gut mit Sahne, Öl, Butter oder gemahlenen Nüssen kalorienreicher zubereiten.
»Astronautenkost« kann unterstützen
Zusätzlich können eiweißreiche, hochkalorische Nahrungssupplemente helfen, den notwendigen Bedarf zu decken. Diese sind in unterschiedlichen Varianten und Geschmacksrichtungen in Apotheken erhältlich und werden auch bei uns auf der Station angeboten. Dass man mit dieser Zusatznahrung auch originell kochen und backen kann, wird auf unserer Geriatrie am Krankenhaus Barmherzige Brüder jede Woche vermittelt. Der »Kraftikus« unseres ZEP liefert als originelle Kochkreation aus hochkalorischer Trinknahrung eine Portion schmackhafte Extra-Power in Form von Buchteln, Waffeln, Shakes oder Kuchen. Rezeptideen wurden in einem Flyer zusammengestellt, der mangelernährten Patienten nach Hause mitgegeben wird. Darunter finden sich auch herzhafte Gerichte, die die ältere Generation noch von früher kennt, wie zum Beispiel ein herzhafter Gemüseeintopf mit Rindfleisch oder eine Cremesuppe. Hochkalorische Trinknahrung mit neutraler Geschmacksrichtung lässt sich dabei als sinnvolle Alternative zu Sahne verwenden.
Die Augen essen mit – und was ist mit den Zähnen?
Die abnehmende Sehfähigkeit im Alter und ein verändertes Farbsehen bedingen, dass Rot die Farbe ist, die am besten wahrgenommen wird. So lässt sich beispielsweise ein Grießbrei, der in seiner hellen Naturfarbe im weißen Gefäß nahezu unsichtbar ist, mit roter Marmelade einfach sichtbar machen. Auch kontrastreiches Geschirr oder Tabletts unterstützen eine bessere optische Wahrnehmung.
Der Blick in den Mund kann bei schlecht sitzender oder fehlender Zahnprothese, schmerzenden Druckstellen oder Zahnfleischentzündungen eine Mangelernährung erklären. Dann sollte ein Zahnarzt zu Rate gezogen werden. Häufig sehen wir Pilzinfektionen im Mund, die sich gut mit speziellen Medikamenten behandeln lassen. Ausgeprägte Mundtrockenheit, die bei der Ernährung zum Problem werden kann, ist nicht selten eine unerwünschte Medikamentennebenwirkung. Dann hilft der Blick auf den Medikamentenplan und gegebenenfalls eine Therapiealternative. In jedem Fall gehört eine gute Mund- und Zahnpflege zu den wichtigsten Strategien zur Vorbeugung von Ernährungsproblemen.
Hat Demenz Einfluss auf Ernährungsgewohnheiten?
Bei demenziellen Erkrankungen können Geschmacksveränderungen die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Die Geschmacksrichtung »süß« wird häufig als angenehm und schmackhaft wahrgenommen. So kann ein mit Honig oder Ketchup gesüßtes Schnitzel besser ankommen als ein normal gewürztes, das schnell als »fad« empfunden wird. Dadurch können ungewöhnliche Konstellationen entstehen, aber entscheidend ist, dass es schmeckt!
Wichtig zu wissen ist zudem, dass Demenzerkrankte einen erhöhten Kalorienbedarf von bis zu 3000 kcal/Tag haben können. So können nächtliche Unruhe und »Umherwandern« Zeichen von Hunger sein, der bei fortgeschrittener Demenz nicht mehr verständlich mitgeteilt werden kann. Daher steht auf unserer Station rund um die Uhr ein kleines Angebot an Obst, Joghurt oder Trinknahrung bereit, das die Pflegekräfte bei Bedarf anbieten können.
Auch kann Nahrung, die portioniert als »Fingerfood« vorbereitet ist, leichter zu sich genommen werden, wenn der Umgang mit Besteck bei fortgeschritten Demenzerkrankten nicht mehr adäquat möglich ist.
Gewichtsverlust als Ausdruck einer Demenz in frühem Stadium
In der Geriatrie werden häufig Patienten mit Gewichtsverlust vorgestellt. Dabei muss grundsätzlich an eine konsumierende Grunderkrankung, zum Beispiel eine Tumorerkrankung, gedacht werden. Aber auch bei kognitiven Störungen kann bereits in frühem Stadium ein Gewichtsverlust auftreten. Grund hierfür können die neuropsychologisch komplexen Anforderungen beim Einkaufen und Kochen sein. Während in einem funktionierenden Haushalt problemlos die nötigen Zutaten eingekauft und aus dem Vorrat Essen zubereitet wird, kann dies für einen beginnend kognitiv eingeschränkten Menschen zur großen Herausforderung werden. Dabei kann aus dem Scheitern an dieser Aufgabe Gewichtsverlust resultieren. Auch ein nachlassendes Hunger-/Durstgefühl bei demenzkranken Patienten führt zu Mangelernährung. Die Patienten scheinen das Essen und Trinken »zu vergessen«. Die Hauptaufgabe des gesamten Teams unserer Sektion Geriatrie liegt dann darin, in gemeinsamen Teambesprechungen individuelle Lösungen für die betroffenen Patienten zu finden. Dabei werden Angehörigen durch den Sozialdienst Unterstützungsmöglichkeiten wie zum Beispiel »Essen auf Rädern« aufgezeigt. Aber auch unsere Pflegekräfte, Logopäden, Ernährungsberater, Ergotherapeuten und Psychologen leisten durch ihre Beobachtungen und im direkten Kontakt mit den Patienten einen wertvollen Beitrag, sinnvolle und umsetzbare Strukturen für zu Hause zu erarbeiten.
Zusammenfassung und Fazit
Mangelernährung im Alter kommt sehr häufig vor. Die Gründe dafür sind vielfältig. So kann ein schlechter Zahnstatus oder eine schlecht sitzende Prothese genauso zu einem reduzierten Ernährungszustand beitragen wie eine Demenzerkrankung oder soziale Isolation.
Im Alter liegt der Fokus bei Ernährung insbesondere auf einer ausreichenden Essensmenge, da die Kalorienzufuhr im Alter häufig zu gering ist. Dazu können Speisen mit kalorienreichen Komponenten (fein gemahlene Nüsse, Sahne, Butter, Öl, Maltodextrin) angereichert werden. Hochkalorische Zusatznahrung lässt sich zudem kreativ in Kuchen, Waffeln, aber auch – in der Geschmacksrichtung »Neutral« als Sahneersatz – in herzhaften Speisen verarbeiten.
Ein wichtiger Beitrag zur verbesserten Ernährungssituation wird von geriatrischen Teammitgliedern wie Therapeuten, Ernährungsberatern, Pflegekräften und Psychologen geleistet. So fallen diesen besondere Ernährungsgewohnheiten oder Appetitmangel der Patienten häufig zuerst auf. Das Gespräch mit einem Patienten über die schwierige häusliche Situation, die dieser als belastend erlebt, kann dabei sehr aufschlussreich sein und wichtige Anknüpfungspunkte aufzeigen. Fühlt sich der Patient mit dem Haushalt überfordert? Hat er Sorge, jemandem zu Last zu fallen?
Da diese Eindrücke in einer regelmäßigen Teambesprechung thematisiert werden, können gemeinsam sinnvolle Lösungsansätze gesucht werden. Wertvolle Unterstützung wird vom gesamten Behandlungsteam durch Motivation zum Essen und Trinken oder durch die Schaffung einer entspannten, ruhigen Essatmosphäre geleistet.
Dabei ist dem Team um Frau Dr. Stefanie Martin klar, dass jede Lösung individuell auf den Patienten abgestimmt sein muss. Patentlösungen, die zu jeder Lebenslage passen, gibt es in der Geriatrie nicht. Aber gerade das macht für das Behandlungsteam die Arbeit interessant und für alle steht die Lebensqualität des Patienten im Mittelpunkt.
Essen und Trinken ist für die meisten Menschen ein wichtiger Beitrag zur Lebensqualität und gegessen werden darf, was schmeckt!