19. Jahrgang 2022, Heft 3: Eine Institution stellt sich vor

Fabia Heischling:

Gemeindeschwesterplus (PDF)

Wer hat ihn nicht, diesen Wunsch: bis ins hohe Alter selbstbestimmt leben – so, wie ich will, und dort, wo ich möchte. Aber ab dem 80. Lebensjahr nimmt die Wahrscheinlichkeit, Unterstützung in irgendeiner Form zu benötigen, deutlich zu.
   Die Fachkräfte Gemeindeschwesterplus in Rheinland-Pfalz bieten hochbetagten Seniorinnen und Senioren an, sich im eigenen Umfeld individuell und professionell beraten zu lassen. Die Beratungs- und Kümmererstruktur Gemeindeschwesterplus ist ein wichtiger Baustein und eine Antwort darauf, der immer älter werdenden Gesellschaft gerecht zu werden.

Historie

Während der Jahre 2015 bis 2018 wurde das Modellprojekt »Gemeindeschwesterplus« in Rheinland-Pfalz in neun ausgewählten Kommunen (Landkreis Kaiserslautern, Stadt Kaiserslautern, Stadt Koblenz, Eifelkreis Bitburg-Prüm, Landkreis Birkenfeld, Landkreis Neuwied, Landkreis Alzey-Worms, Landkreis Südliche Weinstraße, Stadt Landau) entwickelt, wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Das Land Rheinland-Pfalz hat das Modellprojekt finanziert.
   Das Projekt wurde während der Implementierungsphase von Juli 2015 bis Ende des Jahres 2016 durch das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP) wissenschaftlich begleitet.  Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Dr. Ursula Köstler und Dr. Kristina Mann der Universität zu Köln, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, evaluierten während der Jahre 2017 und 2018 das Modellprojekt und legten im Mai 2018 den Evaluationsbericht vor.
   Der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung, ebenfalls durch das DIP in Köln erstellt, wurde im Mai 2019 vorgestellt.  In Abgrenzung zum Evaluationsbericht geht es beim Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung nicht um die Beurteilung von Zielerreichung und Wirkungen des Projekts, sondern um die Beschreibung der Strukturentwicklungen, um Prozesse sowie gewonnene Kennzahlen und Erkenntnisse.

Was ist Gemeindeschwesterplus?

In den Landkreisen und kreisfreien Städten wird eine Kümmererstruktur implementiert, alltagsbegleitend und netzwerkorientiert, für Menschen in der vulnerablen Hochaltrigkeit, die noch keinen Pflegebedarf haben, aber Unterstützung im Alltag benötigen. Über das Instrument des präventiven Hausbesuchs gelingt es, Zugang zu der Gruppe der Hochaltrigen zu finden. Die Fachkräfte Gemeindeschwesterplus sind besonders geschulte Pflegefachkräfte. Sie bieten hochbetagten Menschen Unterstützung und Beratung in ihrem Lebensabschnitt an mit dem Ziel, möglichst lange selbstbestimmt zu Hause leben zu können.
   Die Fachkräfte Gemeindeschwesterplus besuchen hochbetagte Menschen zu Hause und beraten sie kostenlos und individuell. Die präventive Beratung nimmt beispielsweise die soziale Situation, gesundheitliche und hauswirtschaftliche Versorgung ebenso in den Blick wie die individuelle Wohnsituation, Mobilität oder Freizeitgestaltung und Kontakte. Die Gemeindeschwesternplus vermitteln auch wohnortnahe und gut erreichbare Teilhabeangebote wie gesellige Seniorentreffen, Bewegungsangebote, Veranstaltungen oder interessante Kurse.
   Die Fachkräfte Gemeindeschwesterplus helfen dabei, die Selbstständigkeit der Menschen und deren Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe möglichst lange zu erhalten. Im besten Fall gelingt es, Pflegebedürftigkeit durch gezielte Interventionen möglichst zu vermeiden oder hinauszuzögern. Außerdem vermitteln die Fachkräfte Gemeindeschwesterplus Informationen über das bestehende Beratungs- und Hilfesystem im Wohnumfeld. Die Seniorinnen und Senioren oder ihre Angehörige können sich auf Wunsch bei einem Hausbesuch oder telefonisch kostenlos und angebots- und trägerneutral beraten lassen. Beim Hausbesuch erhält die Fachkraft ein gutes Gesamtbild der Besuchten, ihres Wohnumfelds und ihrer Lebenssituation. Sie erkennt schnell Ressourcen und Defizite. Häufige Beratungsthemen sind die gesundheitliche Situation, die hauswirtschaftliche und pflegerische Versorgung, Mobilität, die soziale Situation, die Wohnsituation, die Freizeitgestaltung, Ernährung, Bewegung, die finanzielle Situation oder Vereinsamung. Gemeinsam mit den Ratsuchenden wird ein Bedarfsplan erstellt. Ob und welche Empfehlungen oder Hilfen angenommen und umgesetzt werden, entscheiden die Seniorinnen und Senioren selbst. Zeigt sich während der Beratung, dass bei den Ratsuchenden bereits ein Pflegebedarf eingetreten ist und möglicherweise Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung bestehen könnten, vermittelt die Gemeindeschwesterplus zum Pflegestützpunkt.
   Die Zusammenarbeit mit Netzwerkpartnerinnen und -partnern vor Ort ist eine weitere wichtige Aufgabe der Fachkräfte Gemeindeschwesterplus. Um Angebote gezielt und niedrigschwellig vermitteln zu können, bedarf es eines gut funktionierenden Netzwerks.   
Die Fachkräfte Gemeindeschwesterplus kennen bestehende Angebote. Gemeinsam mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort und der Kommunalverwaltung tragen sie dazu bei, bestehende Angebote zu fördern, zu stärken, bedarfsgerecht weiterzuentwickeln oder auszubauen. Allein in den ersten drei Jahren der Modellprojektphase haben die Gemeindeschwesternplus mehr als 70 neue Angebote und Initiativen initiiert, umgesetzt und etabliert: Angebote zur Förderung von Bewegung, gegen Vereinsamung, zur Verbesserung der Transportmöglichkeiten, zur Erhöhung der Sicherheit, zur Unterstützung im Alltag, zur Steigerung der Teilhabemöglichkeiten und regelmäßige Informationsveranstaltungen und Fachvorträge.

Wie ging es weiter? Die Verstetigungsphase

Seit dem Jahr 2019 wird »Gemeindeschwesterplus« in einer zweiten Phase fortgeführt und durch das Land Rheinland-Pfalz gemeinsam mit den in Rheinland-Pfalz vertretenen gesetzlichen Krankenkassen und Krankenkassenverbänden finanziert. Diese Kooperation wird bis 31.12.2022 bestehen. Sie hat das Ziel, die Gestaltung der lokalen Infrastruktur und sozialer Netze am Wohn- und Lebensort weiterzuentwickeln, um so die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen zu gewährleisten. Die Fachkräfte Gemeindeschwesterplus helfen dabei, mögliche Hemmschwellen und Hindernisse zu überwinden und zielgerichtete Angebote zu entwickeln. In den Kommunen, die Gemeindeschwesterplus umsetzen, werden kommunale Gesundheitsförderungsprozesse entwickelt. Gesundheitsfördernde Strukturen und Angebote in der Lebenswelt Kommune sollen gestärkt werden. Der präventive Hausbesuch als zugehendes Angebot steht dabei im Mittelpunkt. Die inhaltliche Ausprägung hat ihren Schwerpunkt bei Prävention, der Entwicklung kommunaler Gesundheitsförderungskonzepte für ein gesundes Leben im Alter, der Entwicklung sozialer Räume als der Örtlichkeit, in der sich der Alltag der Menschen abspielt, und der Vernetzung bereits vorhandener Angebote und Strukturen.
   Im Rahmen der Zusammenarbeit ist es gelungen, die Anzahl der in Rheinland-Pfalz tätigen Fachkräfte Gemeindeschwesterplus zu erhöhen. Am 31.12.2019 gab es in Rheinland-Pfalz 19 Fachkräfte Gemeindeschwesterplus mit 12,5 Vollzeitstellen. Bereits ein Jahr später waren 23 Vollzeitstellen besetzt. Am 31.12.2021 gab es 43 Fachkräfte Gemeindeschwesterplus, das Land und die Krankenkassen finanzierten 27,5 Vollzeitstellen.
   Einige Kommunen finanzieren darüber hinaus weitere Fachkraftstellen Gemeindeschwesterplus aus eigenen Finanzmitteln.
   Diese sogenannte Verstetigungsphase wird evaluiert durch inav, privates Institut für angewandte Versorgungsfragen GmbH, mit Sitz in Berlin. Die Evaluation wird verantwortet durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Das Ergebnis wird im Sommer 2022 erwartet.

Perspektive und Ausblick

Ein Ergebnis der wissenschaftlichen Begleitforschung ist, dass die Möglichkeiten, Beiträge zu gesundheits- und selbstständigkeitsfördernden Infrastrukturen zu leisten, an die Personalkapazitäten gebunden sind; Modellregionen, in denen zwei Vollzeitstellen gefördert wurden, profitierten von diesen Entwicklungen mehr als Modellregionen mit nur einer Vollzeitstelle. Darauf hat die Landesregierung reagiert. Der Koalitionsvertrag der Landesregierung für die Legislaturperiode 2021 bis 2026 sieht vor, Gemeindeschwesterplusstufenweise auszubauen und flächendeckend einzuführen, den Ausbau mit 54 Gemeindeschwesternplus innerhalb der Legislaturperiode abzuschließen.  Rheinland-pfälzische Landkreise und kreisfreie Städte können eine Landesförderung für 1,5 Fachkraftstellen beantragen, um ihren hochbetagten Bürgerinnen und Bürgern das Angebot Gemeindeschwesterplus zu machen.
   Die Tätigkeit als Gemeindeschwesterplus bietet ein großes Spektrum an Betätigungsfeldern und setzt langjährige Erfahrung als Pflegefachkraft voraus. Der Umsetzungserfolg von Gemeindeschwesterplus hängt wesentlich von den örtlich vorhandenen Steuerungskapazitäten ab. Die kommunale Anbindung bewirkt bei der Zielgruppe der Hochbetagten, dass Gemeindeschwesterplus als ein seriöses Beratungsangebot wahrgenommen wird, dem man Vertrauen entgegenbringen kann und das Beratungsneutralität und -objektivität gewährleistet.
   Gemeindeschwesterplus ist ein Zukunftsmodell mit hoher Wertschätzung, das mittlerweile deutschland- und europaweit Beachtung findet. Es wird von den Bürgerinnen und Bürgern sehr gut angenommen. Sie fühlen sich in ihrer Lebensführung unterstützt und durch den Austausch mit den Fachkräften gut informiert, gestärkt, stabilisiert und wertgeschätzt.