Meinolf Peters:
Der Ukraine-Krieg, die Alten und Wir (PDF)
Während dieser Zwischenruf entsteht (April 2022), erschüttert uns alle der Krieg in der Ukraine. Ich erhielt mehrere Anrufe von Journalisten, die sich erkundigen wollten, wie es wohl den alten Menschen dabei ergehe, und auch meine eigenen Gedanken richteten sich immer wieder auf diese Frage. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung wurde darüber berichtet, dass es die Jungen sind, die aus der Ukraine fliehen, während die geschwächten und gebrechlichen Alten zurückbleiben, allein in einer oftmals verwüsteten Umgebung und den Gefahren durch andauernden Beschuss ausgesetzt (SZ 09.04.2022, 3). Wie mag es ihnen dabei ergehen? Eine Untersuchung aus Israel zeigt (Palgi et al. 2016), dass bei andauerndem Raketenbeschuss durch die Palästinenser die Alten zunächst nicht anders reagierten als die Jungen. Doch wenn der Beschuss andauerte, zeigten Alte weitergehende Einschränkungen als Junge, vor allem auch im kognitiven Bereich. Um wie viel schlimmer muss die Situation für diejenigen sein, die schon früher in ihrem Leben Ähnliches erlebt haben? Ich selbst habe erst jüngst Ergebnisse vorgelegt, die zeigen, dass potenziell traumatische Ereignisse im Leben die Bindungssicherheit und die Mentalisierungsfähigkeit im Alter beeinträchtigen (Peters 2021, 2022). Die Geschichte der Ukraine lässt vermuten, dass ein großer Teil der dortigen alten Bevölkerung bereits im Zusammenhang mit der Besetzung durch Nazi-Deutschland traumatisiert wurde – mindestens acht Millionen Ukrainer kamen infolge des Überfalls durch die Wehrmacht ums Leben. Manche dürften sogar noch den Terror Stalins miterlebt haben, durch den ebenfalls Millionen Menschen ihr Leben verloren haben; die meisten wurden ausgehungert. Und dann ging im April 2022 auch noch die Meldung durch die Presse, dass der 96-jährige Boris Romantschenko, der vier Konzentrationslager überlebt hat, bei einem Raketenangriff in Charkiw ums Leben gekommen ist. 50 weitere Holocaust-Überlebende wurden nach Deutschland gebracht, welch eine Kapriole der Geschichte, wenn die ehemals beschützende und die angreifende Macht die Rollen tauschen.
Doch der Krieg bleibt nicht auf die Ukraine beschränkt, er ruft auch in unserem Land starke Reaktionen hervor, und auch hierzulande zeigen sich alte Menschen in besonderer Weise betroffen. In den letzten Wochen habe ich keine Therapiestunde mit älteren Patienten erlebt, in der der Krieg nicht Thema war, und dabei wurde deutlich, wie viele schmerzhafte Erinnerungen er weckt. Dies war besonders bei einer weit über 80-jährigen Patientin in schon fragilem körperlichen Zustand der Fall, die 1956 nach dem Ungarn-Aufstand unter dramatischen Umständen aus Budapest geflohen war. Jetzt träumte sie erstmals von der Flucht, davon, wie sie in einer Gruppe mit anderen über das Feld lief, sie selbst hatte dabei einen Schuh verloren, und wie alle dabei ganz still sein mussten, weil nachts Geräusche noch hörbarer werden, und überall konnten Soldaten der Roten Armee versteckt sein. Nun erlebte sie dieses Gefühl der Bedrohung in ihren Träumen erneut.
Was aber bedeutet das für uns (ältere) Psychotherapeuten, und wie gehen wir jetzt mit unseren älteren Patienten um? Können wir ihnen so begegnen, wie wir es auch sonst tun, wenn Patienten mit einer traumatischen Vorgeschichte zu uns kommen und wir versuchen, ihnen ein stabiles und sicheres Gegenüber zu sein? Ich habe meine Zweifel, dass wir dazu in der jetzigen Situation immer in der Lage sind. Zunächst einmal betrifft auch uns alle dieser unfassbare Krieg, auch wir sind erschüttert, und ich selbst musste in den ersten Tagen immer wieder mit den Tränen kämpfen, wenn ich die Bilder der Zerstörung, von Tod und Leid sah. Doch es ist mehr als die eigene emotionale Erschütterung. Es kommt eine Verunsicherung in den eigenen Überzeugungen hinzu, die wesentliches Element einer generationsspezifischen Identität sind. Ich gehöre einer Generation an, von der große Teile in ihrer Jugend die Überzeugung »Frieden schaffen ohne Waffen« übernommen und sich damit identifiziert haben. Für mich wie für viele meiner Generation war die große Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981 ein prägendes Ereignis, das uns in der festen Überzeugung bestärkt hat, allem Militärischen mit Skepsis zu begegnen, ja das Militärische als irgendwie aus der Zeit gefallen zu betrachten. Die Bundeswehr spielte für uns keine Rolle, es gab sie, nun gut, vielleicht konnte sie bei der nächsten Naturkatastrophe Sinnvolles tun. Und heute? Plötzlich höre ich den alten Generälen zu, die jetzt wieder im Fernsehen zur militärischen Lage Stellung nehmen dürfen, und dann wundere ich mich über mich selbst, dass ich plötzlich auch für Waffenlieferungen in die Ukraine bin. Aufrüstung scheint plötzlich kein Schreckgespenst mehr zu sein, das nur der Rüstungsindustrie dient, sondern eine Notwendigkeit, um die Ukrainer in ihrem Kampf gegen den Imperialismus zu unterstützen und vielleicht sogar uns selbst zu schützen. Grundlegende Überzeugungen sind ins Rutschen geraten, und manchmal fühle ich mich verwirrt, verunsichert, frage mich, wo stehe ich denn jetzt, und müssen wir wirklich das, von dem wir zutiefst überzeugt waren, über Bord werfen? War auch ich naiv, wie jetzt oft gesagt wird? Das mag ich nicht glauben, nach wie vor zählen doch humanistische Werte. Doch nun gelten andere Werte, und ich habe das Gefühl, die humanistischen müssen vorerst zurückstehen, aufgeben möchte ich sie allerdings nicht.
Was bedeutet das nun für die Therapie und wie gehen wir damit um? Mir scheint der Begriff der Eigenübertragung angebracht, den Gereon Heuft (1990) in einem etwas anderen Kontext eingeführt hat. Er wollte damit beschreiben, dass bei dem Thema Kriegskindheit Therapeuten sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigen sollten, um sich der eigenen »blinden« Flecken bewusst zu werden. Auch jetzt gilt, sich zunächst einmal der Thematik bewusst zu sein und sie zu reflektieren, um möglichst keine unangemessene Abwehr oder überzogene Emotionen an den Tag zu legen, die Patienten irritieren können. Dennoch sollten wir den Patienten auch nichts vormachen, keine falschen Gewissheiten an den Tag legen, nicht unsere eigene Verunsicherung überspielen. Vielmehr erscheint es notwendig, authentisch zu bleiben und anzuerkennen, dass wir im Hinblick auf dieses Thema mit den Patienten in einem Boot sitzen, wie es einst Yalom (1989) für existenzielle Themen beschrieben hat. Nur dann können wir mit ihnen gemeinsam versuchen, die ohnmächtige Wut, die Hilflosigkeit und die Trauer zu tragen und aushaltbar zu machen.
Literatur
Heuft G (1990) Bedarf es eines Konzeptes der Eigenübertragung. Forum der Psychoanalyse 6: 299–315.
Palgi Y, Shrira A, Shmotkin D (2016) Aging with trauma across the lifetime and experiencing trauma in old age: Vulnerability and resilience interwinded. In: Cherry KE (Hg) (2016) Traumatic stress and long-term recovery: Coping with disasters and other negative life events. (Springer Publishing) 293–308.
Peters M (2021) Trauma and Mentalization Ability in Older Patients. An Empirical Contribution to the Effect of Trauma in Old Age. GeroPsych 34(4): 189–201. doi.org/10.1024/1662-9647/a000267
Peters M (2022) Trauma and attachment in older patients with common mental disorders. GeroPsych https://doi.org/10.1024/1662-9647/a000294 (im Druck).
Yalom ID (1989) Existenzielle Psychotherapie. Köln (Edition Humanistische Psychologie).
Bertram von der Stein:
(Kritischer) Zwischenruf zum Ukraine-Krieg (PDF)
Der Zweite Weltkrieg endete vor 77 Jahren. Nie wieder Krieg, zumindest in Europa, ist das eine Illusion, die jetzt, Jahrzehnte nach dem Balkankrieg und wenige Jahre nach dem Krieg in Syrien, endgültig zerplatzt? Jetzt gibt es viele berechtigte Stellungnahmen und Aufrufe von Initiativen, Organisationen, Institutionen und Fachgesellschaften gegen den Zivilisationsbruch des Ukraine-Krieges. Dabei geht es um politische Wiederholungszwänge vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges, um pathografisch orientierte Betrachtungen über Putin – von Iwan dem Schrecklichen bis zu Adolph Hitler – hin- und herpendelnd zwischen diagnostischen Mutmaßungen, von Persönlichkeitsstörung, Psychose bis zur neurologischen Systemerkrankung. Dazu passt, dass Putin unreflektiert in paradoxer Weise einen Gegner mit jüdischen Wurzeln als Nazi bezeichnet. Paranoide Projektionen und maligne Regressionen vor dem Hintergrund des Todestriebes werden angesprochen.
Angesichts aktueller Kriegsbilder werden Schilderungen von Eltern und Großeltern auch bei Angehörigen der Generation, die 76 Jahre Frieden kennt, lebendig: Natürlich denkt man bei der Betrachtung von Kindern, die mit ihren Angehörigen oder ganz alleine aus der Ukraine kommen, oder bei russischen Soldaten, die als Jugendliche in den Krieg ziehen müssen, an eigene Eltern und Großeltern. Der Ausspruch einer ansonsten sehr gesitteten alten Dame bringt es auf den Punkt: »Ich hätte nicht gedacht, dass diese alte Scheiße so schnell wiederkommt, und das vor unserer Haustür.« Erschrecken, Empörung und Entrüstung führen zu zahlreichen ohnmächtigen Zwischenrufen, die durchaus berechtigt sind. Was kann also dieser kritische Zwischenruf bewirken?
Es gilt, Schockstarre zu überwinden, die immer in der Umgebung von Traumatisierungen auftritt, und nach einem ersten Affekt- und Entrüstungssturm die Leiden der unmittelbar und mittelbar Betroffenen in unserem Umfeld zu erkennen: Akut vom Krieg betroffene Menschen aus der Ukraine mit frischen posttraumatischen Belastungsstörungen werden auf uns zukommen, ebenso all jene, die mit dem Schicksal Osteuropas verbunden sind: Dazu gehören viele Exilanten aus der ehemaligen UDSSR, sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus Osteuropa, Betroffene der Balkankriege, viele Opfer faschistischen, kommunistischen und islamistischen Terrors. Immer wiederkehrenden Themen in der PiA und allgemein in der Psychotherapie Älterer sind der Holocaust und der Zweite Weltkrieg mit Flucht und Vertreibung und deren transgenerationalen Folgen. Viele alte Menschen und deren Nachkommen haben bis heute mit Folgeschäden zu kämpfen. Nicht zu vergessen sind die Opfer der Flüchtlingswelle von 2015 und auch zahllose Geschädigte politischer Gewalt von Minderheiten, die uns weniger bekannt sind. Über die Wiederkehr des Verdrängten ist in psychotherapeutischen Praxen bereits jetzt viel zu berichten.
Konkrete ehrenamtliche Hilfe und das Bereitstellen entsprechender Behandlungskontingente gepaart mit psychohistorischer Sensibilisierung bilden den Rahmen, in dem im Blick auf das gegenwärtig Mögliche sich ein wenig die Ohnmachtsgefühle überwinden lassen, die sonst in fatalistische Resignation überzugehen drohen.