Kritischer Zwischenruf zum Themenheft
“Psychosenpsychotherapie”
Claas Happach
Eine Lanze für die Psychosenpsychotherapie im Alter brechen! (PDF)
Lasst uns eine International Late Psychosis Association (ILPA) ins Leben rufen! Eine IEPA – die International Early Psychosis Association – gibt es schon seit 1998. Während das zweite und dritte Lebensjahrzehnt in den wissenschaftlichen und klinischen Bemühungen um Patient:innen, die eine psychotische Symptomatik einwickeln, sehr im Fokus steht, liegt die Phase des Alters im Schatten oder gar im Dunkeln. Haben es psychoseerkrankte Menschen generell schon schwer, in eine psychotherapeutische Behandlung zu finden, so ist es für die alten unter ihnen beinahe aussichtslos, ein entsprechendes Beziehungsangebot zu erhalten. Was ist da los? Ist es vielleicht nur eine Frage der Zeit, müssen wir geduldiger sein und das wird schon noch werden?
Die Psychosenpsychotherapie wird unter anderem in München in der Überregionalen Weiterbildung in analytischer Psychosentherapie seit 1993 in regelmäßigen Tagungen und inzwischen auch curriculär vermittelt; im Frankfurter Psychoseprojekt seit 1996 durch Veröffentlichungen befördert; und im 2011 gegründeten Dachverband deutschsprachiger Psychosenpsychotherapie (DDPP) zusammengeführt, in dem psychodynamische und verhaltenstherapeutischen Ausrichtungen wie auch die Perspektive der Psychoseerfahrenen vertreten sind. Diese spezifische Therapieform ist eine in Deutschland noch relativ junge Disziplin, die sich – erst einmal – an jüngere Patient:innen richtet. Auch wenn an den psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten die Psychosentherapie im Curriculum auftaucht, kann man sich schon sehr freuen; ebenso wie darüber, dass die Psychotherapie Älterer eine ausdrückliche Berücksichtigung erfährt. Die Verbindung von beidem kommt jedoch praktisch nicht vor. Eher sind es einzelne Dozierende, die aufgrund ihrer eigenen klinischen Erfahrung mit dieser Patientengruppe kasuistisch berichten.
Was bringt Psychotherapeut:innen dazu, sich mit der Therapie Psychoseerkrankter zu beschäftigen? Dazu hat Glen Gabbard, US-amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker, 2005 in seinem Lehrbuch Psychodynamic Psychiatry in Clinical Practice geschrieben: »The motivations, both conscious and unconscious, that lead a psychotherapist to enter into what could become a lifelong commitment to treat a schizophrenic patient are both mysterious and highly personal« (ebd., 191). Es sind also nach Gabbard »geheimnisvolle« und »höchst persönliche« Motive, die den Psychotherapeuten dazu führen, eine möglicherweise lebenslange Selbstverpflichtung einzugehen und einen schizophrenen Patienten zu behandeln. Das klingt, als wüsste Gabbard, wovon er schreibt, allerdings führt er nicht weiter aus, welche Motive gemeint sind. Dazu erfahren wir mehr von Johan Cullberg, einem schwedischen Psychiater und Psychoanalytiker, im Epilog seines 2008 in deutscher Übersetzung erschienen Buches Therapie der Psychosen. Cullberg beschreibt, wie ihn das Erleben der Erkrankung seines älteren Bruders an einer schizophrenen Psychose und die Bedingungen, unter denen dieser Mitte der 1950er Jahre psychiatrisch behandelt wurde, beeinflussten, und dass es ohne diese persönliche Beziehung zu einem Erkrankten das vorliegende Buch nicht geben würde. Sind das die geheimnisvollen und höchst persönlichen Motive, die Gabbard andeutet? Von der Konstellation des Geschwisters eines psychisch Erkrankten, das seinerseits eine psychiatrisch-psychotherapeutische Berufswahl trifft, ist in vertraulichen Gesprächen oder auch in Berichten wie dem von Cullberg nicht so selten etwas zu erfahren. Zu den höchst persönlichen Motiven, die ebenso für die Aufnahme einer Behandlung wie auch dagegen sprechen könnten, zählt natürlich auch die Konstellation, in der Patient:innen im Alter eines psychotisch erkrankten Elternteils des Therapierenden sind.
Eine weitere Perspektive erscheint mir in diesem Zusammenhang wichtig. Parallel zur oben skizzierten Entwicklung der Psychosenpsychotherapie kam mit dem 1992 erlassenen Gesundheitsstrukturgesetz die Ökonomisierung des Gesundheitswesens in Gang. Gleichzeitig waren die 1980er und 1990er Jahre die Zeit von »Big Pharma«, in denen mit den neu auf den Markt gebrachten atypischen Neuroleptika Riesengewinne erwirtschaftet wurden und entsprechend Forschungsgelder in die Entwicklung von Früherkennungs- und Behandlungsstrategien bei Jugendlichen und Jungerwachsenen strömten. Der Titel eines Editorials des Medical Journal of Australia lautete 2007 entsprechend: »Investing in youth mental health is a best buy«. Von dieser wissenschaftlich unterfütterten »Schnäppchenjagd« und dem impliziten Versprechen, mit der Frühbehandlung die Schizophrenie heilen oder zumindest eine Chronifizierung verhindern zu können, hat sich die Psychiatrie inzwischen wieder distanziert. Durch regulatorische Maßnahmen wurde der Einfluss der Pharmaindustrie zurückgedrängt. Diese professionelle Desillusionierung hat die Hinwendung zu den psychotherapeutischen Zugängen in der Psychosentherapie befördert. Im Wissenschaftsmagazin Science erschien 2014 ein »Talking back to Madness« übertitelter Beitrag von Michael Balter zur festgefahrenen Gen- und Medikamentenforschung und der Renaissance von Psychotherapiestudien, der darlegte, wie der Verrücktheit mit psychotherapeutischen Interventionen erfolgreich Kontra gegeben werden kann. Dies im Übrigen auch dem Wunsch vieler Betroffener folgend.
Das Paradigma der Heilung – Sigmund Freud sprach 1915 vom »furor sanandi« – ist mittlerweile durch die Idee von Psychotherapie als einer entwicklungsförderlichen, intersubjektiven Begleitung, in der die Beziehung und der Prozess im Vordergrund stehen, abgelöst worden. In diesem Verständnis kann dann auch die psychotherapeutische Arbeit mit psychoseerkrankten Älteren ihren Platz einnehmen. Ob es sich nun um die von Glen Gabbard angedeutete, in manchen Fällen tatsächlich lebenslange, dann oft sequenzielle Behandlung handelt oder um eine zeitbegrenzte Intervention zur Unterstützung von notwendigen Anpassungsprozessen in akut auftretenden Krisen des hohen Lebensalters, ist individuell zu entscheiden.
Jedenfalls sollte sich die Alterspsychotherapie mit ihrer besonderen Kompetenz, in einer Beziehungserfahrung Transitionen konstruktiv zu gestalten, unbedingt auch an die alten Menschen mit psychotischem Erleben richten.
Literatur
Balter M (2014) Talking back to Madness. Science 343(6176): 1190–1193.
Cullberg J (2008) Therapie der Psychosen. Bonn (Psychiatrie-Verlag).
Freud S (1915a [1914]) Bemerkungen über die Übertragungsliebe. GW X: 306–321.
Gabbard G (2005) Psychodynamic Psychiatry in Clinical Practice. Arlington (American Psychiatric Publishing).
McGorry PD, Purcell R, Hickie IB, Jorm AF (2007) Investing in youth mental health is a best buy. Medical Journal of Australia 187(7): S5–S7.