Simon Forstmeier: Editorial zum Themenheft
“Exposition und Konfrontation”
Wie bewältigte Johann Wolfgang von Goethe seine Höhenangst? Er selbst beschrieb es folgendermaßen:
»Abends beim Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und Schläge das Herz im Busen zersprangen mögen. Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms und saß in dem sogenannten Hals, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle im Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, indessen die nächsten Umgebungen und Zieraten, die Kirche und alles, worauf und worüber man steht, verbergen. Es ist völlig, als ob man sich auf einer Montgolfiere in die Luft erhöhen sähe. Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig war« (Goethe 1975, 337).
Goethes Methode bezeichnen wir heute in der Psychotherapie als Exposition oder Konfrontation. Beide Begriffe kann man synonym verwenden, wobei der Begriff »Konfrontation« in psychodynamischen Therapien häufiger verwendet wird, »Exposition« dagegen häufiger in der Verhaltenstherapie. Gemeint ist, dass Patient:innen geholfen wird, sich Situationen, Objekten, Gedanken und damit zusammenhängenden Ängsten geplant auszusetzen und das Unbehagen achtsam wahrzunehmen, bis es abnimmt. Dieses Expositionsprinzip wurde zunächst, wie das Beispiel von Goethe zeigt, außerhalb der Psychotherapie entdeckt und beschrieben (Marks 1978). Es ist so naheliegend wie wirksam, sodass auch Sigmund Freud es in seinen frühen Schriften erwähnte:
»Nehmen Sie das Beispiel des Agoraphoben; es gibt zwei Klassen von solchen, eine leichtere und eine schwerere. Die ersteren haben zwar jedes Mal unter Angst zu leiden, wenn sie allein auf die Straße gehen, aber sie haben darum das Alleingehen noch nicht aufgegeben; die anderen schützen sich vor der Angst, indem sie auf das Alleingehen verzichten. Bei diesen letzteren hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den Einfluss der Analyse bewegen kann, sich wieder wie Phobiker des ersten Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen und während dieses Versuches mit der Angst zu kämpfen« (Freud 1947, 191).
In der Verhaltenstherapie wurde der Begriff »Exposition« allmählich häufiger verwendet, nachdem Marks (1975) in einer kritischen Übersicht über lerntheoretisch fundierte Interventionen schlussfolgerte, dass reine Exposition genauso effektiv sei wie systematische Desensibilisierung, die zu dieser Zeit viel häufiger in der Angstbehandlung eingesetzt wurde. Hierbei lernen die Patient:innen zunächst ein Entspannungsverfahren, bevor sie sich in einem entspannten Zustand imaginativ mit angstauslösenden Reizen konfrontieren. Exposition verzichtet auf das Entspannungsverfahren und kommt damit schneller zum Ziel.
Die Artikel in diesem Band eint die Frage, inwiefern Expositionsverfahren bei Menschen im höheren Lebensalter eingesetzt werden können bzw. ob oder wie das Vorgehen anzupassen ist. Expositionsverfahren werden von Psychotherapeut:innen sowieso schon besonders stressreich erlebt, weil die Konfrontation mit aversiven Reizen auch für sie belastend ist. Wie viel mehr zögern sie dann bei älteren Menschen, die beispielsweise Herz- und Atemwegserkrankungen, einen jahrzehntelangen Krankheitsverlauf und/oder kognitive Beeinträchtigungen mitbringen? Im Artikel von Jessica Arns, Verena Born, Lukas Flöter, Nik Hulsmans und Simon Forstmeier wird empirisch nachgewiesen, dass Psychotherapeut:innen die »jungen Alten« (65–80-Jährige) etwas seltener und die »alten Alten« (über 80-Jährige) viel seltener als jüngere und mittelalte Menschen mit Expositionsverfahren behandeln. Sie stellen weiterhin dar, welche Faktoren die Anwendungshäufigkeit beeinflussen.
Was kann nun die Lösung für dieses Problem sein: einerseits eine hochwirksame Behandlungsmethode für Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und weitere Störungen zu haben, andererseits gute Gründe, bei älteren Menschen besonders vorsichtig zu sein? Die Antwort ist nicht leicht, müssen doch verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Hier ist eine kurze Vorschau, welche Faktoren in den Artikeln dieses Bandes diskutiert werden:
In der Übersichtsarbeit von Simon Forstmeier und Jan Ochel wird im Falle kardiopulmonaler Risiken vorgeschlagen, eine Expositionsbehandlung in enger Absprache mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin durchzuführen, weil diese:r die Risiken gut einschätzen kann. Außerdem können gegebenenfalls wenig erregende Expositionsverfahren wie imaginative oder narrative Exposition verwendet werden.
Willy Herbold, Per Wallraven, Verena Böhm und Katja Körner beschreiben, wie in der Angstbehandlung Expositionsverfahren und die Arbeit mit der Übertragung verbunden werden können. Beispielsweise ist die Bereitschaft des:der Therapeut:in, den:die Patient:in bei der In-vivo-Exposition zu begleiten, ein Beziehungsangebot, das je nach vorherrschendem Beziehungsthema von dem:der Patient:in als Nähe stiftend oder aber als aufdringlich oder taktlos wahrgenommen werden kann. Die Übertragungen werden die Behandlung nicht behindern, wenn sie angemessen berücksichtigt werden.
Bei chronisch Kranken kommen auch Ängste mit realistischem Bezug vor. Ein Beispiel dafür ist die Progredienzangst, also die Angst vor dem Fortschreiten einer Erkrankung und deren Folgen. Petra Berg und Andreas Dinkel erläutern, wann die Progredienzangst behandlungswürdig ist und wie sie mit imaginativer Exposition gelindert werden kann.
Luise Reddemann beschreibt das beziehungsorientierte Vorgehen in einer tiefenpsychologisch orientierten Traumabehandlung, das eine »dosierte« Exposition mit den schmerzhaften Erinnerungen beinhaltet.
Ältere Menschen mit komplexer Traumatisierung und möglicherweise suizidaler Symptomatik stehen im Fokus des Beitrags von Dana Bichescu-Burian, Anna-Lena Schwab und Maria-Luisa Steib. Die Autorinnen beschreiben, wie in einem stationären Behandlungskonzept narrative Exposition, integriert in einen Lebensrückblick, mit anderen Interventionen wie Förderung von Emotionsregulation kombiniert und nach Entlassung ambulant weitergeführt wird.
Wir wünschen den Leser:innen, die verschiedenen Möglichkeiten der therapeutischen Exposition und Konfrontation kennen und schätzen zu lernen und sie mutiger als bisher in ihrer Arbeit mit älteren Patient:innen anzuwenden.
Literatur
Freud S (1947) Werke aus dem Jahren 1917–1920. Wege der psychoanalytischen Therapie. GW XII. Frankfurt a.M. (Fischer) 181–194.
Goethe JW (1975) Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil. Frankfurt a.M. (Insel).
Marks I M (1975) Behavioral treatments of phobic and obsessive compulsive disorders: A critical appraisal. In: Hersen M, Eisler RM, Miller PM (Hg) Progress in Behavior Modification, Vol. 1. New York (Academic Press) 65–158.
Marks IM (1978) Exposure treatments. In: Agras WS (Hg) Behavior Modification (Vol. 2nd ed.). Boston (Little Brown and Company).