Versorgungsinnovationen für ältere Menschen:
Es ist dringend notwendig, dass durch Versorgungsinnovationen die Bedarfe und Bedürfnisse älterer Menschen im Gesundheitssystem adäquat berück- sichtigt und gewürdigt werden und dass diese Innovationen in die Regelversorgung überführt werden. Aufgrund des demografischen Wandels ist dies dringlicher denn je. Denn der Begriff des demografischen Wandels scheint mittlerweile ein Synonym für die Alterung der Gesellschaft geworden zu sein. Obwohl der Begriff an sich wertneutral ist und lediglich die Veränderung der Alterszusammensetzung der Gesellschaft beschreibt, geht er im öffentlichen Narrativ häufig mit der Warnung einher, dass die Gruppe der älteren Menschen stetig wachsen wird, sichtbar an der Alterspyramide, die sich immer mehr in Richtung einer Urnenform entwickelt. Es hat fast apokalyptische Züge, die Alterung der Bevölkerung anhand einer Urne zu beschreiben. Aber was genau liegt dieser Warnung zugrunde? Im gleichen Atemzug mit der stark wachsenden Bevölkerungsgruppe der älteren Menschen wird betont, dass das Gesundheitssystem nicht ausreichend auf die Versorgung älterer Menschen vorbereitet sei. Hinzu kommen weitere soziale, ökonomische und gesellschaftliche Folgen und Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Diese Entwicklung wird bereits seit Langem prognostiziert und nicht erst seit heute besteht die Notwendigkeit, die Regelversorgung grundlegend auf die Bedarfe und Bedürfnisse älterer Menschen auszurichten. In der wissenschaftlichen Literatur liegen dazu schon lange Vorschläge und Modelle vor. Doch wie lassen sich diese evidenzbasiert in die Regelversorgung überführen? Eine Möglichkeit stellt der Innovationsfonds dar, der explizit zum Ziel hat, die Versorgung im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland qualitativ weiterzuentwickeln (vgl. https://innovationsfonds.g-ba.de/). Dabei werden zwei Ausschreibungslinien unterschieden: Einerseits Neue Versor- gungsformen, bei denen Versorgungsinnovationen, die über die Regelversorgung hinausgehen, erprobt und evaluiert werden, und andererseits Versorgungsforschung, bei der im Rahmen der Regelversorgung Empfehlungen für eine Verbesserung der bestehenden Versorgung entwickelt werden. Erfolg- reich erprobte Projekte haben damit die Chance, innovative Versorgungselemente in die Regelversorgung implementieren zu können. Das Ziel dieses Themenhefts besteht darin, anhand abgeschlossener und noch laufender Innovationsfondsprojekte das Potenzial für die medizinische, psychosoziale und psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen darzustellen. Uns ist bewusst, dass es neben dem Vehikel des Innovationsfonds noch weitere wichtige und vielversprechende Forschungsförderungen für Versorgungsmodelle älterer Menschen gibt. Die Auswahl in diesem Heft kann daher nur einen kleinen Ausschnitt aus der aktuellen Landschaft bieten. Gleichzeitig erscheint uns der Blick auf Innovationsfondsprojekte besonders relevant, weil diese die Lücke von wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Regelversorgung schließen möchten.
Daher beginnt das Heft mit einer Übersicht über ältere Menschen in In- novationsfondsprojekten. Wir beschreiben zunächst, was der Innovationsfonds überhaupt ist, und werten anschließend aus, welche Projekte in der Hauptsache auf ältere Menschen fokussieren. Lediglich 17% der Projekte weisen einen altersspezifischen Fokus auf. Von diesen werden in diesem Heft fünf Projekte in Form von fallbezogenen Praxisbeispielen sowie Projektberichten vorgestellt. Die Projekte spiegeln die Heterogenität der Ziel- gruppe älterer Menschen und die Variationsmöglichkeiten in der Beglei- tung und Versorgung ebendieser wider. Insgesamt drei Projekte erproben neue Versorgungsformen (DemStepCare, TIGER, FAMOUS) und zwei Projekte fallen in den Bereich der Versorgungsforschung (DAVOS, PSY- CARE). Allen Projekten ist gemeinsam, dass deren Interventionsphase teilweise oder komplett in unterschiedliche Wellen der Corona-Pandemie fielen oder noch fallen. Entsprechend musste in den Zeiten der Lockdowns die Versorgung für die Patientinnen und Patienten entweder ausgesetzt oder spontan auf telemedizinische Formate umgestellt werden. Dies brachte einzigartige Herausforderungen in der Projektdurchführung mit sich und prägt die Versorgungslandschaft noch heute nachhaltig. Gleichzeitig ist es als Erfolg zu werten, dass durch Flexibilität und Kreativität aller an den Projekten Beteiligten Versorgungsinnovationen für ältere Menschen trotz der herausfordernden Bedingungen der Corona-Pandemie weiter erprobt werden konnten.
Alle drei Projekte aus dem Bereich der Neuen Versorgungsformen setzen dabei auf die Etablierung einer neuen Person im Versorgungsnetz der Patientinnen und Patienten (z.B. Case Manager:innen, Pfadfinder:innen, Advanced Practice Nurses), die mit koordinierenden Aufgaben besonders vulnerable Personengruppen begleiten. Die Stabilisierung der häuslichen Versorgungssituation steht bei allen drei Projekten im Vordergrund. Außerdem ist in allen die hausärztliche Praxis involviert, die in zwei der drei Projekten sogar eine zentrale Rolle spielt. Im Bereich der Versorgungsforschung finden sich die einzigen zwei Projekte, die psychotherapeutische Elemente explizit in der Versorgung berücksichtigen. In beiden Projekten werden ältere Menschen mit Pflegebedarf und Depression adressiert, einmal in der Häuslichkeit (PSY-CARE) und einmal im Pflegeheim (DAVOS). Beiden Projekten ist gemeinsam, dass interdisziplinäre Perspektiven in der Versorgung dieser vulnerablen Personengruppen berücksichtigt werden. Das ist auch ein Fazit des Überblickartikels zu den älteren Menschen in Innova- tionsfondsprojekten: In der Mehrheit der Projekte wird auf interdisziplinäre Ansätze im ambulanten Setting unter Einbezug der hausärztlichen Praxis sowie einer Person mit koordinierender Funktion gesetzt. Die Rolle dieser Person mit koordinierender Funktion (z. B. Advanced Practice Nurse) ist im deutschen Versorgungssystem (im Vergleich zu anderen Ländern) hinsicht- lich Kompetenzen, Aufgaben und Funktionen noch nicht festgelegt. Somit besteht hierzulande die Chance, deren Profil gewinnbringend um psycho- logische Aspekte zu ergänzen und neben der medizinisch-pflegerischen Ver- sorgung die Berücksichtigung psychologischer Bedarfe selbstverständlich zu verankern. Dazu würde auch gehören, die psychotherapeutische Versorgung ebenso wie eine medizinische, pflegerische und psychosoziale Behand- lung in integrierten Versorgungsmodellen selbstverständlich mitzudenken.
In der Zusammenschau ist insgesamt kritisch zu beleuchten, dass der Anteil der altersspezifischen Projekte nicht dem entspricht, was aufgrund des demografischen Wandels angemessen wäre. Und die massive Unterre- präsentation psychotherapeutischer Elemente zeigt erneut Handlungsbedarf für eine bessere Versorgung älterer Menschen auf. Das heißt, auch wenn es einerseits erfreulich ist, dass Projekte mit einem altersspezifischen Schwerpunkt im Innovationsfonds vertreten sind, so ergibt sich andererseits, dass dies erst der Beginn einer notwendigen Transformation im Versorgungssystem sein kann, in dem die Bedürfnisse und Bedarfe älterer Menschen mehr berücksichtigt und gewürdigt werden. In diesem Sinne beleuchten wir im kritischen Zwischenruf die Konsequenz der Ausformulierung der KSVPsych-RL1 für Menschen mit Demenz, die hier im wahrsten Sinne des Wortes vergessen wurden und dadurch nicht wie erhofft per se von einer dringend benötigten Versorgungsinnovation profitieren können.
Wir möchten Ihnen mit dieser Zusammenstellung von Projekten einen Einblick geben, auf welch innovative Art und Weise neue Interventionen und Versorgungsformen derzeit für ältere Menschen entwickelt, adaptiert und evaluiert werden. Dies stellt einen großen Gewinn für die Versorgungslandschaft dar und wir hoffen, dass die guten und sinnvollen Ansätze nach und nach in die Regelversorgung überführt werden.
Wir möchten allen Autorinnen und Autoren für die Mitwirkung und angenehme Zusammenarbeit an diesem Themenheft danken. Dadurch werden wertvolle Einblicke in die Projekte ermöglicht! Ein herzlicher Dank geht ebenfalls an die beteiligten Reviewer:innen für die konstruktiven Anregungen zu den Beiträgen und an die geschäftsführende Herausgeberin von PiA, Astrid Riehl-Emde, die mit äußerster Sorgfalt die Zusammenführung der Artikel begleitet hat.