Marie-Luise Hermann & Bertram von der Stein: Editorial zum Themenheft
”Alternde Babyboomer – zwischen Patchwork, Diversität und Tradition”
Das 34. Symposium der Arbeitsgruppe Psychoanalyse und Altern fand am 2./3. Dezember 2022 in Kassel zum Thema »Alternde Babyboomer – Zwischen Patchwork, Diversität und Tradition« statt. Im Zentrum standen die noch wenig erforschten Lebensentwürfe und -verläufe der Generation der Babyboomer (in der etwas weiteren Definition die Jahrgänge 1955 bis 1969), die diese beim Eintritt in das dritte Alter mitbringen. Die »Generation der Vielen« (von Becker 2014) ist mit großen Erwartungen und Möglichkeiten gestartet und wurde in der Realität häufig mit Enttäuschungen, Brüchen und Neuanfängen konfrontiert, die zu einer Vielfalt an Lebensentwürfen und realen Lebensverläufen geführt hat. Uns interessierte, was diese Generation im Älterwerden und zu Beginn des dritten Alters bewegt, und ob die Babyboomer das Altern neu gestalten werden.
Das hervorstechendste Merkmal dieser Generation ist: »Sie sind so viele«, und sie bewegen sich als geburtenstarke Kohorten durch die Abbildungen der Bevölkerungsstatistiken. Einst bildeten sie den Boden der Pyramide oder des Tannenbaums – viele Kinder standen in den Nachkriegsdekaden für Zukunftshoffnung und neuen Wohlstand. Allmählich bringen sie jedoch die Ordnung der Generationenfolge durcheinander: Die »breiten Schultern« der Jahrgänge schieben sich in den Darstellungen nach oben zur Glockenform und bis in 30 Jahren hin zu einer Trichterform. Das Größenverhältnis von arbeitender und berenteter Bevölkerung kehrt sich immer stärker um.
Die Definition, wer zur »Generation der Vielen« dazugehört, ist uneinheitlich. In Deutschland stiegen ab 1955 die Geburtenraten stark an und nahmen ab 1965 mit dem »Pillenknick« bis etwa 1969 wieder stark ab. Die stärksten Jahrgänge mit über 1,2 Millionen Geburten pro Jahr (BRD) waren diejenigen von 1959 bis 1968. Obwohl sie so viele sind, treten sie als Generation bisher wenig in Erscheinung, es gibt wenig Selbstdeklaration im Sinne von »das sind wir« und wenig sozialwissenschaftliche oder psychologische Untersuchungen – wenn, dann wird über »die Babyboomer« gesprochen. Sie selbst wissen sofort, dass ihre Generation damit gemeint ist, die Älteren und Jüngeren wissen das meist nicht so genau. Es wird den Boomern nachgesagt, sie seien bequem und verwöhnt im Windschatten der 68er-Generation gesegelt. Von der Klimajugend wurde das Schimpfwort »Boomer« kreiert für die heute über 50- bis 60-Jährigen, die durch ihr hedonistisches Verhalten die Welt in die Klimakrise geführt und zu wenig dagegen unternommen hätten.
Dankenswerterweise haben die beim Symposium Vortragenden ihre Beiträge überarbeitet, die wir Ihnen in diesem Heft präsentieren können. Wir haben Fragen gestellt, welche die vorliegenden Beiträge zu beantworten versuchen: Welche zeitgeschichtlichen Einflüsse dieser »letzten Nachkriegsgeneration« und dieser Kinder der Kriegskinder haben ihre Sozialisation geprägt? Welche transgenerationalen Delegationen unbewusster Aufträge haben ihre seelische Befindlichkeit geprägt? Wie haben sich den Babyboomern die Möglichkeiten präsentiert, die von den vorausgehenden jungen Erwachsenen der 68er-Generation für eine liberalisiertere Gesellschaft erkämpft worden sind – in der Erziehung, in Bezug auf einen gleichberechtigten Zugang zu Ausbildung, Beruf und freie Formen von Sexualität und Partnerschaft? Diese Fragen begegnen uns in der Psychotherapie mit den heute Mitte-50- bis Ende-60-Jährigen in der »Zwischenbilanz« ihrer psychischen Krisen. Wie die Babyboomer ihre Verantwortung in der Gesellschaft als Eltern, aber auch politisch wahrgenommen oder versäumt haben, wird in Fragen der Generationengerechtigkeit aufgeworfen.
Zur einleitenden psychohistorisch-psychoanalytischen Einordnung entwickelt Matthias Franz im Beitrag »Wir sind wieder wer. Zur transgenerational tradierten narzisstischen Krypta der Boomergeneration« überraschende Parallelen zwischen den Kriegskindern als erste Vorkriegsboomerjahrgänge (1930 bis 1939) und den Nachkriegsboomerjahrgängen (1955 bis 1966). Diesen Zusammenhang erklärt er mit der Hypothese unbewusst enkryptierter schuldbeladener Inhalte narzisstischer Grandiosität, die von der Generation der Nachkriegsboomer über den Mechanismus der transgenerationalen Weitergabe übernommen und ausgeführt worden sein könnten. Auswirkungen reichen vom Umgang mit ökologischen Ressourcen und mit der jüngeren Generation bis hin zum Umgang mit dem eigenen Altern.
Marie-Luise Hermann zeichnet in »Das Patchwork der Babyboomer: Zwischen Idealen, Desillusionierung, Versagen und Neuanfängen« ein Bild der Generation, die mit hohen Erwartungen als Kriegsenkel im »Wirtschaftswunder«, unbewusster Delegation eines Wiedergutmachungswunsches und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung aufgewachsen ist. Diese Einflüsse können jedoch nach der Lebensmitte zu psychischen Krisen der Desillusionierung, des erschöpften Zusammenbruchs und zu Versagensgefühlen führen. In Fallbeispielen aus der Psychotherapie steht die Bearbeitung unerreichbarer Ich-Ideale von beruflichen Chancen, Aufstieg und Selbstbestimmung an der Schwelle zum dritten Alter im Zentrum.
Bertram von der Stein öffnet mit seinem Beitrag »Babyboomer, die ›anspruchsvollen Vielen‹: Saturiert oder zu kurz gekommen?« den Blick in seine Praxis mit einem Querschnitt an psychodynamischen und psychosozialen Notlagen der Babyboomer, wobei er auf die Vielzahl unterschiedlicher Gruppen mit ihren Herkunftsgeschichten und Traditionen hinweist, die für die Auseinandersetzung mit dem Alter eine Rolle spielen.
Das Generationenverhältnis in seiner gesellschafts- und klimapolitischen Dimension wird von Delaram Habibi-Kohlen in ihrer Analyse der »Klimagerechtigkeit im Generationenkonflikt: Psychoanalytische Überlegungen zur intergenerationellen Abwehrstruktur« dargestellt. Sie umschreibt gegenseitige Schuldzuweisungen und die Abwehrdynamik von Schuld und Neid zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Sie bringt die Individualisierung und Entpolitisierung der Thematik in Zusammenhang mit einem kulturell zerstörerischen Über-Ich, an dem wir alle leiden, und wirft Fragen zur Bedeutung von Trauerarbeit und Wiedergutmachung innerhalb der Klimathematik und im Generationenverhältnis auf.
Das Generationenverhältnis wird auch im abschließenden Beitrag »Millennial meets Boomer – Ein Blick der jüngeren Generation auf die Babyboomer« von Andreas Normann, jedoch mit anderem thematischem Schwerpunkt, beleuchtet. Er charakterisiert beide Generationen, hält ihnen den kritisch-selbstkritischen Spiegel vor und lässt ihr Verhältnis anhand persönlicher Erfahrungen und Begegnungen spürbar werden. In der Auseinandersetzung erscheint ihm die Ambivalenz zwischen den Generationen, zwischen Faszination, Begeisterung sowie Idealisierung auf der einen Seite und Ohnmacht, Ärger bis hin zu Abwertung auf der anderen Seite wesentlich. Im Zentrum seiner Fragen steht, wie der Individuationsprozess in der psychoanalytischen Ausbildung unter und mit den Boomern gelingen kann.
Das Themenspektrum zeigt die Herausforderungen, denen wir Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten heute in der Arbeit mit älteren Menschen begegnen: Es befinden sich aktuell drei sehr unterschiedlich sozialisierte und in ihrer psychischen Entwicklung geprägte Generationen im Alter: die hochaltrigen Kriegskinder, die 68er-Generation am Ende und die Babyboomer zu Beginn des dritten Alters. Davon überlagert weitet sich der Blick auf eine Vielzahl von Angehörigen der Babyboomergeneration, die aus unterschiedlichen Gruppen von Zuwanderern und deren psychohistorischem Erbe stammen, die das Bild der deutschen Gesellschaft bereicherten und die, jetzt im frühen Alter angekommen, die Diversität des Alters in der deutschen Gesellschaft vergrößern.
Das Eingestehen transgenerationaler Verstrickungen durch unbewusste Delegation von Schuld und abgewehrter Grandiosität zwischen Kriegskindern, Nachkriegsboomern und nachfolgenden Alterskohorten findet eine Fortsetzung in der Auseinandersetzung um klimapolitisches Handeln und Verantwortung für die Nachfolgegenerationen. Diese Sicht bildet eine Klammer über alle Generationen und Gruppen hinweg und eröffnet neue Dimensionen der kritischen Selbstreflexion und des Dialogs zwischen alten, älteren und jungen Menschen.
Last but not least möchten wir Sie aufmerksam machen auf den kritischen Zwischenruf von Dirk K. Wolter zur aktuellen Frage Welche Rolle werden Psychologen in der psychiatrischen Versorgung künftig jenseits der ambulanten Psychotherapie spielen?
Marie-Luise Hermann (Zürich) & Bertram von der Stein (Köln)
Literatur
von Becker B (2014) Babyboomer. Die Generation der Vielen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
Kontakt
Dr. phil. Marie-Luise Hermann
Praxis für Psychotherapie & Psychoanalyse
Weinbergstrasse 147
CH-8006 Zürich
E-Mail: mlhermann.praxis@bluewin.ch
Prof. Dr. Bertram von der Stein
Berrischstr. 130 a
50769 Köln
E-Mail: Dr.von.der.Stein@netcologne.de