Same same but different? Ein Update zu Depression im Alter

»Wären Sie nicht auch depressiv, wenn Sie alt wären?« So überschrieben Manfred Wolfersdorf u. Michael Schüler ihr Editorial zum Themenheft Depressionen, das vor 16 Jahren erschienen ist (PiA 4/2007). Wolfersdorf u. Schüler, die damaligen Heftherausgeber, zitierten dabei J.C. Nelson, der mit dieser Frage seinen Fachvortrag zum Thema Depression bei älteren Menschen auf dem Jahreskongress der APA 2001 eingeleitet hat. Diese provokante Frage liegt inzwischen über 20 Jahre zurück. Sie wurde in einer Zeit gestellt, in der sich Konzepte gesunden Alterns neben der traditionellen Defizitsicht des Alterns etablierten; Themen wie Prävention und Resilienz gegenüber psychischen Erkrankungen im Alter waren allerdings noch weniger Teil des wissenschaftlichen Diskurses, als sie es heute sind. Daher liegt die Frage nahe, ob sich die Antworten auf diese Frage seither verändert haben.

Bei der Frage schwingen eindeutig negative Annahmen, eine defizitorientierte Sicht auf das Altern und eine Normalisierung und Verharmlosung von Depressionen im Alter mit. Auch schwingt mit, dass ältere Menschen pauschal über einen Kamm geschoren werden, obwohl die Gruppe der älteren Menschen durch eine große Heterogenität gekennzeichnet ist. Diese negativen und pauschalisierten Annahmen sind in Grundzügen sicher heute noch gesellschaftlich verbreitet, und gleichzeitig wird dem Thema Altern allgemein und auch der Depression im Alter zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. So untersuchte das Deutschland-Barometer Depression 2019 spezifisch die Depression im Alter (Stiftung Deutsche Depressionshilfe 2019). Die Ergebnisse der Befragung bestätigen zwar, dass Depressionen im Alter nach wie vor unterschätzt werden, doch gleichzeitig deutet sich eine Offenheit für psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten an. Denn 64% der über 70-Jährigen geben an, eine Psychotherapie machen zu wollen, wenn sie von einer Depression betroffen wären, obwohl 71% der Befragten glauben, dass ältere Menschen seltener dazu bereit wären (Stiftung Deutsche Depressionshilfe 2019). Dennoch befinden sich laut der Umfrage nur 12% der über 70-Jährigen in Psychotherapie – verglichen mit 31% der 30- bis 69-jährigen Menschen mit Depression (Stiftung Deutsche Depressionshilfe 2019). Auch das Thema Altersdiskriminierung wird heute stärker beachtet und problematisiert. Die Weltgesundheitsorganisation WHO veröffentlichte 2021 dazu einen Welt-Report, der nicht nur zeigt, dass Altersdiskriminierung weit verbreitet ist, sondern auch darlegt, mit welchem Ausmaß an negativen gesundheitlichen, sozialen und persönlichen Konsequenzen diese Diskriminierung für Betroffene einhergehen kann. Die entsprechenden Pläne zur Bekämpfung der Altersdiskriminierung liegen vor; die Notwendigkeit der besseren psychotherapeutischen Versorgung älterer Menschen ist hinreichend erkannt, aber was hat sich an der Antwort auf die Einstiegsfrage konkret geändert?

Damals wie auch heute besteht die Gemeinsamkeit darin, dass gute empirische Belege für die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten vorliegen, diese aber nach wie vor zu wenig in der Versorgungsrealität der älteren Menschen ankommen. Dabei fällt auf, dass im erwähnten PiA-Themenheft aus dem Jahr 2007 die medikamentöse Therapie der Depression viel stärker thematisiert wurde als im vorliegenden rein psychotherapeutisch ausgerichteten Themenheft. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass auch rein psychotherapeutische Perspektiven auf Altersdepression mittlerweile eine Daseinsberechtigung haben. Gleichzeitig ist bekannt und bedenkenswert, dass die Gruppe der älteren Menschen insgesamt einen Großteil der in Deutschland verschriebenen Medikamente erhält (Schaufler u. Telschow 2015). Ein differenzierteres Verständnis über pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten bei Depressionen im Alter ist also auch heute noch relevant. Psychotherapie im Alter stellt unbestreitbar für viele ältere Menschen mit depressiver Störung eine echte Alternative zur medikamentösen Behandlung dar. Neben einem Mangel an Therapieplätzen und der Herausforderung des Zuganges fehlt es sicher aber auch an Fachleuten, die dazu in der Lage sind, die Vor- und Nachteile von medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung – oder einer Kombination aus beidem – den Betroffenen sachgerecht und individualisiert, also »patienten-zentriert« darzulegen und so ein echtes Shared-Decision-making zu ermöglichen. Denn neben allem Wissen um die empirische Evidenz und Effektivität unterschiedlicher Behandlungsformen helfen unsere Therapieverfahren gerade bei Depression nicht, wenn wir die Patient:innen nicht dafür ins Boot bekommen. Das galt damals und gilt auch heute.

Auch wenn die Ausgangslage heute in Grundzügen vergleichbar ist mit der von 2007, so hoffen wir dennoch, mit diesem Themenheft einen Einblick in ausgewählte Themenfelder und therapeutische Ansätze bieten zu können, die zeigen, dass sich die Psychotherapie bei Depression im Alter weiterentwickelt hat. Die interdisziplinären und multimodalen Ansätze wurden weiter ausdifferenziert, neue Settings in (teil-)stationären, ambulanten und aufsuchenden Formaten erprobt und Erkenntnisse und Befunde systematisch in Behandlungsmanualen zusammengefasst. Es löst somit eine gewisse Ambivalenz aus, dass die im Themenheft 4/2007 beschriebenen Herausforderungen und Schwierigkeiten in der psychotherapeutischen Versorgung älterer Menschen mit Depression auch heute noch bestehen und bisher keine zufriedenstellende Lösung erfahren haben. Gleichzeitig scheint gerade mit dem Älterwerden der geburtenstarken Babyboomer-Generation das Thema Alter und Altern eine neue Aufmerksamkeit und Plattform zu bekommen, die vielleicht auch als Motor zur Beförderung der Psychotherapie im Alter gesehen werden kann. Die Lebensformen im Alter werden zunehmend heterogener, viele traditionelle Rollenbilder gelten als überholt. Diese Veränderungen beinhalten auch eine große Chance dafür, dass die psychische Gesundheit einen höheren Stellenwert gewinnt. Wir werden sehen, ob die Frage »Wären Sie nicht auch depressiv, wenn Sie alt wären?« in weiteren 20 Jahren überhaupt noch gestellt wird, und wenn ja, wie die Antwort auf diese Frage dann aussehen wird. Heute ist die Frage noch berechtigt, wobei sie auch heute bereits zur Gegenfrage einlädt: »Warum sollte ich (im Alter depressiv sein)?«

Und ganz ehrlich: Wenn das Altern per se aufgrund der vielfältigen Verlusterfahrungen zu einer Depression führt, wie können wir uns dann erklären, dass viele Menschen im Alter psychisch gesund bleiben? Die Themen Prävention und Resilienz erweitern unser Wissen darüber, wie man trotz der Herausforderungen des Alterns psychisch gesund bleiben kann, was schon vor 30 Jahren in psychologischen Theorien anhand von Selektion, Optimierung und Kompensation beschrieben wurde (Baltes u. Baltes 1994). Ebenso trug Carstensens Sozioemotionale Selektivitätstheorie (Carstensen et al. 1999) zu einem Grundverständnis bei, wie sich psychologische Prozesse im Alter verändern. Diesbezügliche Erkenntnisse fließen maßgeblich in die altersspezifischen Psychotherapieansätze ein und helfen uns, besser zu verstehen, wie die Psyche im Alter geschützt werden kann. Vielleicht entwickelt sich die provokante Frage »Wären Sie nicht auch depressiv, wenn Sie alt wären?« mit dem Wissen um Prävention und Resilienz perspektivisch auch in eine sachliche, unaufgeregte Frage weiter, wie zum Beispiel: »Wie schützen Sie Ihre Psyche im Alter?«. Wäre es nicht wünschenswert, gesellschaftlich so weit zu sein, dass eine provokante Frage an dieser Stelle gar nicht mehr nötig ist?

Wir würden uns freuen, wenn Ihnen unsere Zusammenstellung von kognitiv-verhaltenstherapeutischen und tiefenpsychologischen Behandlungsperspektiven einen gewinnbringenden Einblick vermittelt, wie psychotherapeutische Behandlungen von Depressionen heute gestaltet werden können. In diesem Zuge möchten wir allen Autorinnen und Autoren herzlich danken für die konstruktive und angenehme Zusammenarbeit an diesem Themenheft. Ebenso danken wir den beteiligten Reviewerinnen und Reviewern für die hilfreichen und wertschätzenden Rückmeldungen zu den Beiträgen sowie der geschäftsführenden Herausgeberin, Prof. Dr. Astrid Riehl-Emde, für die wertvolle Unterstützung und Begleitung bei der Erstellung dieses Themenheftes.

Andreas Fellgiebel (Mainz, Darmstadt) & Alexandra Wuttke (Mainz, Würzburg)

Literatur

Baltes PB, Baltes MM (1990) Psychological perspectives on successful aging: The model of selective optimization with compensation. In: Baltes PB, Baltes MM (Hg) Successful aging: Perspectives from the behavioral sciences. New York (Cambridge University Press) 1–34.

Carstensen LL, Isaacowitz D, Charles ST (1999) Taking time seriously. A theory of socioemotional selectivity. American Psychologist 54(3): 165–181.

Schaufler J, Telschow C (2015) Arzneimittelverordnungen nach Alter und Geschlecht. In: Schwabe U, Paffrath D (Hg) Arzneiverordnungs-Report 2015. Berlin, Heidelberg (Springer).

Stiftung Deutsche Depressionshilfe (2019) Deutschland-Barometer Depression. https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer/2019 (Aufruf 19.06.2023).

Weltgesundheitsorganisation (2021) Global Report on Ageism. https://www.who.int/publications/i/item/9789240016866 (Aufruf 19.06.2023).

Wolfersdorf M, Schüler M (2007) »Wären Sie nicht auch depressiv, wenn Sie alt wären?« Psychotherapie im Alter 4(4): 5–8.

Kontakt

Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Fellgiebel
Zentrum für psychische Gesundheit im Alter (ZpGA)
Hartmühlenweg 2–4
55122 Mainz

und

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
AGAPLESION ELISABETHENSTIFT gemeinnützige GmbH
Akademisches Lehrkrankenhaus Darmstadt
Landgraf-Georg-Straße 100
64287 Darmstadt
E-Mail: andreas.fellgiebel@agaplesion.de

Prof. Dr. Alexandra Wuttke
Zentrum für psychische Gesundheit im Alter (ZpGA)
Hartmühlenweg 2–4
55122 Mainz

und

Universitätsklinikum Würzburg
Zentrum für Psychische Gesundheit ZEP
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Margarete-Höppel-Platz 1
97080 Würzburg
E-Mail: Wuttke_A@ukw.de

Andreas Fellgiebel & Alexandra Wuttke: Editorial zum Themenheft
”Depression”