20. Jahrgang 2023, Heft 3: Eine Institution stellt sich vor
Katharina Geschke (Mainz)
Selbsterhaltungstherapie im Akutkrankenhaus
Das interdisziplinäre Behandlungskonzept der gerontopsychiatrischen Station der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz
Therapieansätze für Menschen mit Demenz
Demenzen sind häufig begleitet von psychischen und Verhaltenssymptomen, wie Agitation oder Reizbarkeit. Diese Symptome stellen oft eine besonders belastende Situation für die Betroffenen sowie eine Herausforderung für die Pflegenden dar. Häufig entstehen diese Symptome im interaktionellen Kontext und die Wirksamkeit von Pharmakotherapie ist hierbei bekanntlich begrenzt (DGPPN u. DGN 2017).
Behandelnde und Zugehörige müssen deshalb den Menschen mit Demenz als Ganzes betrachten, mitsamt der Kontextfaktoren, unter Berücksichtigung der engen Bezugspersonen und der Familie, sowie der Bedürfnisse des Individuums, seien sie medizinisch, kognitiv, psychosozial, umweltbedingt oder kulturell.
Die Selbsterhaltungstherapie (SET) nach Barbara Romero (2004) stellt ein solches, (neuro-)psychologisch fundiertes, multimodales und interdisziplinäres ganzheitliches Konzept zur Behandlung und Betreuung von Menschen mit Demenz dar. Seit etwa 20 Jahren ist die SET Teil von Behandlungsprogrammen in einer steigenden Zahl von Krankenhäusern – so auch seit 2018 auf der gerontopsychiatrischen Akutstation der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz.
Selbsterhaltungstherapie (SET)
Die Selbsterhaltungstherapie (SET) nutzt Elemente der Psycho-, Erinnerungs- und Milieutherapie sowie der Validation. Ziel ist es, die personale Identität und Kontinuität des Menschen mit Demenz so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Im Fokus der therapeutischen Intervention der SET stehen dabei die Anpassung an Veränderungen, die mit der Demenzerkrankung einhergehen. Dabei werden die einzelnen Funktionsstörungen und Veränderungen nicht isoliert betrachtet und in die Behandlung einbezogen, sondern das gesamte Selbst-System des Menschen. Dieses Selbst-System organisiert das Wissen und Erleben, reguliert die Anpassungsstrategien und wird subjektiv als »Ich« wahrgenommen (Romero u. Geschke 2019). Intra- und interpersonale (soziale) Systeme, die durch die Krankheitsfolgen destabilisiert werden können und sich im Krankheitsverlauf immer neu organisieren müssen, werden bei der SET berücksichtigt (Romero 2004).
Betroffene werden bei der Bewahrung ihres Selbstwertgefühls, Wohlbefindens und ihrer Lebensqualität unterstützt. Zudem ist das Ziel, ihnen eine bestmögliche Teilhabe am Leben zu ermöglichen (Romero u. Geschke 2019). Dabei werden im Rahmen der Therapie die Angehörigen, Pflegeheimmitarbeitenden oder andere Bezugspersonen in die Behandlung einbezogen. Denn die SET stellt ein integratives Therapiekonzept dar, das auch die emotionale Stabilisierung und Entlastung der betreuenden Angehörigen zum Ziel hat (Romero 2004; Romero u. Geschke 2019).
Um das Selbst-System des Menschen mit Demenz zu schützen und seine Anpassungsfähigkeit zu unterstützen, kommen folgende Techniken zum Einsatz (Romero u. Geschke 2019):
– Anpassung der Umgangs- und Kommunikationsformen
– Anpassung alltäglicher Aktivitäten und Aufbau von individuellen Aktivitäten, wie auch Erlebnis- und Teilhabemöglichkeiten (dazu gehören der Erhalt der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens, der Leistungsfähigkeit sowie der Erhalt sozialer und emotionaler Kompetenzen)
– Förderung erhaltener Fähigkeiten, die bestehende Ressourcen berücksichtigen und so eine Hilfe zur Adaptation an die veränderten Lebensbedingungen bieten
– psychotherapeutische Unterstützung
Allen Aktivitäten und Interventionen ist gemeinsam, dass sie nicht unter- oder überfordern und entsprechend den individuellen Bedürfnissen und Ressourcen ausgerichtet und angepasst sind (Romero u. Geschke 2019). Auf übende Verfahren zur Verbesserung demenzassoziierter Defizite wird verzichtet (ebd.). Individuelle Aktivitäten können dementsprechend, je nach Fähigkeiten und Interessen, eher komplex sein, wie zum Beispiel Schach spielen, oder weniger komplex und aktiv, wie zum Beispiel Musik hören (ebd.).
Evidenz
Ergebnisse bisheriger empirischer Studien zur SET zeigen eine Verbesserung des Wohlbefindens und der Depressivität nach der Behandlung sowohl bei Menschen mit Demenz als auch bei deren Angehörigen, eine Reduktion der Belastung der Angehörigen und eine Reduktion weiterer psychopathologischer Symptome bei den Menschen mit Demenz (Romero 2004; Schiffczyk et al. 2013; Romero u. Wenz 2010). Gleichzeitig konnte im Zuge dieses Therapiekonzepts eine Zunahme alltagsrelevanter Kompetenzen bei Menschen mit Demenz gezeigt werden (Romero 2004).
Gerontopsychiatrische Akutstation Mainz
Die gerontopsychiatrische Station der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz umfasst 18 Betten. Die Station ist fakultativ geschlossen (bestimmte Patientengruppen – beispielsweise jene mit Hinlaufgefährdung – können mit Transpondern ausgestattet werden, die ein fakultatives Verschließen der Tür ermöglichen).
Das Personal der Station besteht aus dem Pflegeteam, einer Oberärztin und zwei Assistenzärzt:innen, einer Psychologin und Psychologischen Psychotherapeut:innen in Ausbildung sowie Therapierenden von Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie und Sozialdienst.
Implementierung
Implementiert wurde die SET auf der gerontopsychiatrischen Station im Juni 2018: Ab diesem Zeitpunkt fanden erste Schulungen statt, komplettiert von Supervision und Fallbesprechungen (ab April 2019) und Planung eines Fachtags im Jahr 2020. Zudem wurde ab Oktober 2020 die Evaluation der SET geplant und im Februar 2021 mit der Routinedatenerhebung zur Evaluation begonnen.
Ablauf im stationären Setting
Nach Aufnahme im Krankenhaus erfolgt eine strukturierte Kontaktaufnahme mit Angehörigen und Kümmerern und nach Möglichkeit deren Integration in Pflege und Betreuung sowie in die ärztliche Behandlung.
1. Im ersten Schritt der Behandlung nach SET wird vor allem festgestellt, über welche Ressourcen und Defizite die Menschen mit Demenz verfügen. Neben den Beobachtungen durch das Pflegeteam dienen SET-Gespräche mit den Angehörigen hierzu. Dabei werden aktiv persönliche Kontakte mit Angehörigen angestrebt. Eine einheitliche Dokumentation der Erkenntnisse im klinischen Dokumentationssystem macht die Informationen für alle Behandelnden sicht-, abruf- und nutzbar. Zusätzlich werden Ergebnisse der relevanten ärztlichen und therapeutischen Untersuchungen berücksichtigt. Die Behandelnden der Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie und des Sozialdienstes sammeln ebenfalls Informationen, die insbesondere für Anpassungsprozesse an die krankheitsbedingten Veränderungen für die Menschen mit Demenz und Kümmerer von Bedeutung sind.
2. Die gewonnenen Erkenntnisse werden dann genutzt für individuelle Empfehlungen zur Anpassung der Wohnsituation und Vermittlung von geeigneten externen Hilfen (z.B. einer Tagespflege oder eines Besuchsdienstes), zur Anpassung der Umgangs- und Kommunikationsformen und der Tagesgestaltung (z.B. in Form von individuell geeigneten Aktivitäten). Bei diesen »Alltagsentwürfen« wird besonders dafür Sorge getragen, dass die Menschen mit Demenz Gelegenheiten haben, im Alltag aktiv zu sein, eingebunden zu werden und generell am Leben teilzuhaben – orientiert an den individuellen Grenzen, Möglichkeiten, Interessen und Bedürfnissen. Beratende und begleitende Gespräche für Bezugspersonen dienen dazu, diese mit den »Alltagsentwürfen« vertraut zu machen und zur Umsetzung zu befähigen.
3. Im nächsten Schritt wird sichergestellt, dass die Menschen mit Demenz und deren Bezugspersonen die individuell notwendige Unterstützung bei der Umsetzung der Empfehlungen bekommen. Dabei wird auch die Belastung der Bezugspersonen und Angehörigen berücksichtigt und bei Bedarf Unterstützung angeboten und organisiert.
4. Um den Transfer vom stationären Setting in den Alltag der Betroffenen außerhalb des Krankenhauses zu unterstützen, gibt es zusätzlich schriftliche »Therapeutische Empfehlungen«. Diese bündeln die wichtigsten alltagsrelevanten Empfehlungen, die sich aus den Erfahrungen des Behandlungsteams mit den Menschen mit Demenz ergeben, und werden dem Arztbrief bei Entlassung beigelegt.
5. Vor der Entlassung wird mit Angehörigen und Bezugspersonen, Pflegeheimen/Pflegediensten und anderen in die weitere Versorgung involvierten Personen Kontakt aufgenommen und die wichtigsten Punkte der »Therapeutischen Empfehlungen« werden mündlich übergeben. Hier ist zudem Raum für Rückfragen und die Klärung offener Fragen im Hinblick auf die weitere, zukünftige Versorgung. Zudem erfolgt eine Pflegeüberleitung des Pflegeteams.
6. Durch das Angebot telefonischer Kontakte und durch die strukturierte zugehende Kontaktaufnahme drei bis fünf Wochen nach der Entlassung wird eine Nachsorge für die Angehörigen und Kümmerer sowie die Menschen mit Demenz geschaffen. Hier kann nach Bedarf eine erneute Beratung zu pflegerischen Fragen, zum Umgang und zur Kommunikation erfolgen.
Fazit und Ausblick
Erste Ergebnisse zeigen, dass sechs bis acht Wochen nach der Entlassung eine signifikante Reduktion psychopathologischer Symptome und eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität der Menschen mit Demenz erreicht werden konnten. Zudem wurde eine Reduktion der Belastung von Angehörigen und Kümmerern durch persönliche Einschränkungen sowie Verhaltensstörungen der Menschen mit Demenz festgestellt. Die Ergebnisse sind kongruent mit vorhergehenden Studien zur SET und weisen auf eine klinische Relevanz des Therapiekonzepts im Setting einer gerontopsychiatrischen Akutstation hin. Weitere gut konzipierte, kontrollierte Untersuchungen sind notwendig, um zusätzliche robuste Evidenz für die Effekte des Therapiekonzepts der SET zu erhalten.
Literatur
DGPPN, DGN (Hg) (2017) S3-Leitlinie Demenzen. Berlin (Springer). http://dx.doi.org/10.1007/978-3-662-53875-3
Romero B (2004) Selbsterhaltungstherapie. Konzept, klinische Praxis und bisherige Ergebnisse. Zeitschrift für Gerontopsychologie & -psychiatrie 17(2): 119–134. https://doi.org/10.1024/1011-6877.17.2.119
Romero B, Geschke K (2019) Selbsterhaltungstherapie für Menschen mit Demenz. InFo Neurologie & Psychiatrie 21(3): 28–36. https://doi.org/10.1007/s15005-019-0028-z
Romero B, Wenz M (2010) Self-maintenance therapy in Alzheimer's disease. Neuropsychological Rehabilitation 11(3–4): 333–355. https://doi.org/10.1080/09602010143000040
Schiffczyk C, Romero B, Jonas C, Lahmeyer C, Müller F, Riepe MW (2013) Efficacy of short-term inpatient rehabilitation for dementia patients and caregivers. Prospective cohort study. Dementia and geriatric cognitive disorders 35(5–6): 300–312. https://doi.org/10.1159/000348357
Die Autorin
Katharina Geschke, Jahrgang 1982, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für psychische Gesundheit im Alter des Landeskrankenhauses (AöR). Besonderes klinisches und Forschungsinteresse ist die Verbesserung der Prävention und Behandlung gerontopsychiatrischer Erkrankungen.
Kontakt
Dr. med. Katharina Geschke
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
E-Mail: katharina.geschke@unimedizin-mainz.de