Katharina Geschke & Alexandra Wuttke:

Menschen mit Demenz mal wieder vergessen
Die KSVPsych-RL als Innovation in der Regelversorgung (PDF)

Die »Richtlinie über die berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf« ist unseres Erachtens grundsätzlich eine sehr gute Innovation in der Regelversorgung. Sie ist auch als KSVPsych-RL oder ambulante Komplexbehandlung bekannt. Die Richtlinie verfolgt sinnvolle Ziele, durch ihre Anwendung könnte eine große Lücke in der Versorgung geschlossen werden.

Hintergrund für die Entwicklung dieser Richtlinie sind die bekannten Probleme im Versorgungssystem. Die Liste dieser Probleme ist lang und umfasst zum Beispiel die starke Fragmentierung, die Versorgungsbrüche an den Sektorengrenzen, die häufigen (teils vermeidbaren) stationären Aufenthalte sowie die langen Wartezeiten beim Zugang zu leitliniengerechter ambulanter Psychotherapie. Hinzu kommen die ungenügende Abstimmung und Koordination der erforderlichen ambulanten Behandlungsangebote sowie der Mangel an aufsuchenden Hilfen. Das Ziel der Richtlinie besteht darin, spezialisierte ambulante Netzverbünde zu fördern, die betroffene Patientinnen und Patienten mit einem individuellen Leistungspaket versorgen und alle für die Versorgung im Einzelfall benötigten Gesundheitsberufe zu verbinden, um Betroffenen schnell und bedarfsgerecht zu helfen. Das klingt schon fast zu gut, um wahr zu sein.

Seit dem 1. Oktober 2022 gelten nun die neuen Vergütungsziffern der Richtlinie und bereits vor deren Einführung haben einschlägige Fachverbände die mannigfaltigen Aspekte der Richtlinie kritisiert, die eine Umsetzung in der Praxis massiv behindern (u.a. zu hohe formale Hürden für die Bildung der Netzverbünde; volle Kassensitze und Pflicht zur Delegation; mangelnder Einbezug der Angehörigen und der Leistungserbringenden außerhalb des SGB V). Man könnte meinen, die Richtlinie wurde sehenden Auges zum Scheitern verurteilt, bevor sie überhaupt in Kraft trat. Denn die zentralen Kritikpunkte wurden vorher klar und deutlich kommuniziert. Unter anderen haben der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V. (BApK), die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) Stellungnahmen zur Richtlinie abgegeben. Ein gemeinsames Positionspapier vom Spitzenverband ZNS (SpiZ), der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der DPtV betont dabei neben der Behebung von formalen Umsetzungshürden die Notwendigkeit, die Leistungen adäquat zu vergüten.

Gerontopsychiater:innen und Gerontopsycholog:innen kritisieren dabei massiv den Ausschluss aller Erkrankungen aus dem Abschnitt »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« (F00-F09 der ICD-10). Patientinnen und Patienten mit Störungsbildern, die nachweisbar durch eine zerebrale Krankheit, eine Hirnverletzung oder eine andere Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt, verursacht sind, können somit im Rahmen dieser Richtlinie nicht behandelt werden. Das schließt auch klar Menschen mit Demenz aus, und das, obwohl die Demenz zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter zählt und evidenzbasierte psychotherapeutische Ansätze zur Begleitung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen vorliegen. Hier zeigt sich erneut, wie selten ältere Menschen bei Innovationen im Bereich der Psychotherapie berücksichtigt und Menschen mit Demenz sogar komplett vergessen beziehungsweise explizit ausgeschlossen werden. Gerade Menschen mit Demenz würden von einer ambulanten, intensiven Betreuung einschließlich aufsuchender Hilfen und Home-Treatment profitieren, da jeder Ortswechsel für Menschen mit Demenz mit weiteren Verschlechterungen verbunden ist. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit wäre für die Behandlung von Menschen mit Demenz ein sehr großer Gewinn, da deren Versorgungsbedarfe häufig komplex und an der Grenze von Medizin, Pflege und auch Psychotherapie zu verorten sind. In der Entwicklung der Richtlinie schien es zunächst so, dass die KSVPsych-RL eine Hülse für eine bessere ambulante Versorgung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen liefern könnte, aber diese Hoffnung wurde klar enttäuscht. Zwar gibt es Schlupflöcher, Menschen mit Demenz zu behandeln, etwa wenn eine andere Primärdiagnose kodiert wird, aber dies stellt weder eine langfristige noch eine strukturelle Lösung dar. Und leider ist trotz des Protestes an der konkreten Ausformulierung der Richtlinie keine zeitnahe Änderung im Blick. Denn in dieser Legislaturperiode wurde entschieden, die Richtlinie so zu erproben, wie sie nun festgelegt ist und erst in der nächsten Legislaturperiode die Umsetzung und deren Erfolg zu evaluieren. Wenn aber per se aktuell eine so große Gruppe älterer Menschen ausgeschlossen ist, wie kann diese dann in die Evaluation und eventuelle Anpassungen der Richtlinie einbezogen werden? Das wird de facto nicht passieren. Vielmehr ist zu befürchten, dass die sehnsüchtig erwartete ambulante Komplexbehandlung wenig genutzt und in der Versorgungsrealität aufgrund von Bedeutungslosigkeit verschwinden wird. Besonders schade daran ist, dass dies vermeidbar wäre, wenn an ganz einfachen Stellschrauben (z.B. Zulassung von Teil-Kassensitzen, keine Pflicht zur Delegation, Verordnung auch bei organisch psychischen Störungen) gedreht werden würde. Aber wer erhebt schon die Stimme für die psychotherapeutische Begleitung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen? Leider noch zu wenige, um hier grundlegende Veränderungen erreichen zu können.

Links zu den Stellungnahmen

Pielsticker A, Deutsche PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) (2021) Stellungnahme der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) zur Richtlinie über die berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf (KSVPsych-RL). https://www.dptv.de/fileadmin/Redaktion/Bilder_und_Dokumente/Wissensdatenbank_oeffentlich/Stellungnahmen/2021/DPtV-Stellungnahme_zur_KSVPsych_RL.pdf (Aufruf 09.11.2022).

Munz D, Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) (2021) Bitte um Beanstandung des Beschlusses zu § 4 Absatz 1 Satz 2 KSVPsych-Richtlinie: Anforderung eines vollen Versorgungsauftrags für Bezugsärzt*innen und -psychotherapeut*innen. https://www.bptk.de/wp-content/uploads/2021/11/20211101_Beanstandung-KSVPsych-RL_BPtK-Stellungnahme.pdf (Aufruf 09.11.2022).

Hannig R, Möhrmann KH, Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V. (BApK) (2021) Zum Beschluss des G-BA vom 02.09.2021 zur KSVPsych-RL. https://www.bapk.de/presse/stellungnahmen.html (Aufruf 09.11.2022).

Spitzenverband ZNS (SpiZ) (2022) Neue G-BA-Richtlinie: Verbesserung der Versorgung psychisch schwer kranker Menschen ist nur mit angemessener Vergütung möglich! https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/41572d6a7ece4751425c5f13950efc3b241c100e/2022-05-31_KSVPsyRiLi_Forderung%20angemessener%20Vergütung.pdf (Aufruf 09.11.2022).

Kritischer Zwischenruf zum Themenheft
“Versorgungsinnovationen”