Dirk K. Wolter:

Welche Rolle werden Psychologen in der psychiatrischen Versorgung künftig jenseits der ambulanten Psychotherapie spielen? (PDF)

Die öffentliche Meinung hat längst entschieden: Die Deutungshoheit für psychische Störungen liegt bei den Psychologen und nicht (mehr) bei den Psychiatern. Wer sich für psychische Störungen interessiert, studiert Psychologie, nicht Medizin. Psychotherapie lautet das Gebot der Stunde, lautet die Antwort auf das Problem der steigenden Zahl von Krankschreibungen und Frühberentungen aufgrund psychischer Probleme. Und für Psychotherapie stehen Psychologen.

Zahlen: immer mehr Psychologen, immer weniger »Psycho-Fachärzte«

2019 arbeiteten in Deutschland rund 48.000 Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten; das waren 19% mehr als fünf Jahre zuvor. Ihre Zahl stieg seit 2015 stetig jedes Jahr um durchschnittlich 2.000 an. In einer Praxis arbeiteten 2019 knapp 35.000 von ihnen (Statistisches Bundesamt 2021), das sind ca. 73% gegenüber 49% bei den Psycho-Fachärzten (gemeint sind Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, für Psychosomatische Medizin/Psychotherapie sowie für Nervenheilkunde zusammengenommen).[1]

Ende 2021 nahmen nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) 31.308 Psychologische Psychotherapeuten an der vertragsärztlichen Versorgung teil, arbeiteten also ambulant im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Ihre Zahl hat seit 2012 um 65,7% zugenommen. Die KBV betont den »ungebrochenen Trend zur Teilzeittätigkeit«.[2]

Demgegenüber sind die Psycho-Fachärzte eine aussterbende Spezies: Alle drei Psycho-Facharztgruppen zusammen verzeichneten 2021/22 einen Nettozuwachs von gerade einmal 218 (1,18%), ein Jahr zuvor waren es gar nur 90 (0,49%) gewesen. Ende 2021 betrug ihre Gesamtzahl 18.702 (davon 4.126 Fachärzte für Psychosomatische Medizin/Psychotherapie). Zum Vergleich: Ende 2021 gab es 8.831 Fachärzte für Neurologie, 2021/22 betrug der Nettozuwachs 476. Noch deutlicher wird das Problem, wenn man die Alterszusammensetzung betrachtet: Ende 2021 waren 40,72% der Psycho-Fachärzte älter als 59 Jahre, bei den Neurologen waren es nur 11,5%. Umgekehrt waren nur 7,07% der Psycho-Fachärzte jünger als 40 Jahre, hingegen 23,04% der Neurologen.[3]

Diaspora und Gelobtes Land

Über die unattraktiven, belastenden Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern ist im Gefolge der COVID-19-Pandemie viel berichtet und diskutiert worden; die Pandemie war allerdings nicht der Grund für diese abschreckenden Arbeitsbedingungen, sie hat sie lediglich offensichtlicher gemacht. Ein Viertel der angestellten Ärzte erwägt einer Umfrage des Marburger Bundes zufolge deshalb einen Berufswechsel[4].

Die Psychiatrie, die im Ranking des Sozialprestiges ohnehin am unteren Ende der medizinischen Fächer rangiert, wird dabei besonders getroffen, weil das Geschehen auf den Aufnahmestationen immer mehr von Szenarien bestimmt wird, in denen soziale Verwerfungen, Drogenexzesse und die ungelösten Folgen der Migration in einer Weise kulminieren, dass die daraus resultierenden Anforderungen kaum noch etwas damit zu tun haben, wie sich idealistische Jungmediziner den Psychiaterberuf vorstellen – bevor sie mit der Weiterbildung beginnen. Wenn sie begonnen haben, werden sie verheizt und aufgerieben durch Bereitschaftsdienste, Vertretung und immer groteskere Anforderungen auf dem Gebiet von Administration und Dokumentation.

Das Fachgebiet heißt »Psychiatrie und Psychotherapie«, doch Psychotherapie zu erlernen, ist den jungen Ärzten kaum noch vergönnt. Schon für die Teilnahme an Teamsupervisionen reicht die Zeit gewöhnlich nicht.

Natürlich bleibt das potenziellen Interessenten nicht verborgen – mit der Folge, dass die Assistentenstellen in den Versorgungskliniken fast nur noch von Ärzten aus Nicht-EU-Ländern (Balkanraum, Türkei und Vorderasien) besetzt werden, von denen viele, wenn nicht die meisten, nur deshalb die Psychiatrie wählen, weil hier am ehesten eine Stelle zu bekommen ist, denn hier ist die Not am größten. Sobald sich die Gelegenheit ergibt bzw. die vorgeschriebene Wartezeit vergangen ist, versuchen sie, sich auf den Weg zu machen in ein attraktiveres Fach und/oder in eine attraktivere Stadt. Oder in psychosomatische Kliniken, wo es diesen enormen Druck der nicht vorhersehbaren Akutsituation, Gewalt, Polizei, Fixierungen, richterliche Anhörungen usw. nicht gibt, wo Nachtdienste seltener sind und weniger belastend, wo man Gespräche mit Patienten in Ruhe führen und Behandlungsabläufe planen kann. Die Desillusionierung ist groß, die Auszehrung in den Kliniken gewaltig. Und nicht wenige Psychiater suchen den Weg in die Niederlassung, auch solche, denen ursprünglich nicht der Sinn danach stand.

Für Psychologische Psychotherapeuten stellen diese Bereiche (psychosomatische Kliniken und die ambulante Psychotherapie) ohnehin das hauptsächliche Berufsfeld dar. Die Zahl der psychosomatischen Kliniken wächst, ihr Hunger nach Fachpersonal ist unersättlich. Der Brain Drain aus den psychiatrischen Akutkliniken ist in vollem Gange (wobei übrigens für die ärztlichen Leitungspositionen schon seit Langem nicht mehr Fachärzte für Psychosomatische Medizin in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, sodass Psychiater mehr und mehr diese Posten übernehmen).

»Psycho-Medizin« ohne »Psycho-Fachärzte«?

Wer erstmals für sich selbst oder einen Angehörigen notfallmäßig die Hilfe einer psychiatrischen Klinik in Anspruch nehmen muss, ist sich über diese dramatische Situation nicht im Klaren. Man erwartet den empathischen Arzt, der nicht nur über zumindest basale organmedizinische, sondern auch über psychopathologische Kenntnisse verfügt und zusätzlich auch Kompetenzen in Gesprächsführung und Psychopharmakotherapie aufweist. Wer auf eine solche Person trifft, kann von Glück sagen.

Für die randalierenden drogenintoxikierten jungen Menschen, die die psychiatrischen Aufnahmestationen überschwemmen, mag das irrelevant sein, werden sie doch gewöhnlich am Folgetag nach abgeklungener Intoxikation (und großem Arbeitsaufwand von Ärzten, Pflegekräften, Ordnungsamtsmitarbeitern und Richtern, nach Blutentnahme, häufig nach Fixierung sowie seitenlanger Dokumentation) wieder entlassen. Anders stellt es sich für ältere Menschen in depressiven/suizidalen Krisen oder mit akuten organischen oder psychischen Störungen infolge körperlicher Erkrankungen/Funktionsstörungen sowie für Demenzkranke dar.

Wer wird den verwaisten Platz der Psychiater einnehmen?

Im ambulanten Bereich sind es bereits jetzt die Hausärzte, die notgedrungen einen großen Teil der psychiatrischen Versorgung leisten. Wird die Entwicklung in den Krankenhäusern in eine ähnliche Richtung gehen? »In den USA wird über die Aufhebung des psychiatrischen Facharztes diskutiert. Für Medikamente sollen Allgemeinärzte zuständig sein, für Therapien Psychologen und für Soziales ein Mental-Health-Worker« (Uchtenhagen 2017). Andere sprechen davon, dass sich das Berufsbild des Psychiaters zwischen Psychologen/Psychotherapeuten einerseits und Neurologen andererseits auflösen wird. Im universitären Bereich gefallen Psychiatrie-Professoren sich immer häufiger darin, als »Neurowissenschaftler« zu firmieren, statt als Psychiater.

Die Psychiatrie erhebt den Anspruch einer ganzheitlichen Sicht (»biopsychosoziales Störungsmodell«), sie erhebt den Anspruch, die cartesianische Dichotomie von Soma und Psyche zu überwinden, doch in der Realität des psychiatrischen Krankenhauses werden die (angehenden) Psycho-Fachärzte auf administratives und körpermedizinisches Funktionieren reduziert. Gerade bei alten Menschen mit psychischen Störungen ist aufgrund der allfälligen Verschränkung mit körperlichen Erkrankungen auch körpermedizinische Kompetenz vonnöten. Hier sehen Gerontopsychiater ihre Berufung. Doch nichts deutet darauf hin, dass diese Subspezies nicht auch vom Aussterben bedroht wäre, im Gegenteil: steht sie gewöhnlich innerhalb der Psychiatrie doch bereits am unteren Ende der Prestigeskala.

Wenn die Psycho-Fachärzte aussterben, hinterlassen sie eine Lücke. Können Psychologen diese Lücke füllen? Wollen sie es?

Mehr Verantwortung für Psychologen im psychiatrischen Krankenhaus?

In den Kliniken gibt es eine zunehmende Polarisierung zwischen den Berufsgruppen, die den Betrieb auch nachts und am Wochenende sicherstellen (Pflegekräfte und Ärzte) auf der einen Seite und den übrigen (therapeutischen) Berufsgruppen auf der anderen Seite.

Zwischen dem Nachtdienst auf einer psychiatrischen Aufnahmestation/Notfallambulanz und der auf vier Werktage verteilten Halbtagstätigkeit von manchen niedergelassenen Psychologischen Psychotherapeuten klaffen Welten.

Was spricht dagegen, dass Psychologen an der »Front« der Krisen und notfallmäßigen Aufnahmen präsent sind, das heißt, auch am Wochenende und nachts Dienst leisten? Neben der Psychotherapie im engeren Sinn und der Psychodiagnostik gibt es zahlreiche Aufgaben, die traditionell mit dem Berufsbild des Psychiaters assoziiert wurden, tatsächlich aber auch von Angehörigen anderer Berufsgruppen bewältigt werden können. Dazu gehören zum Beispiel Krisengespräche mit Patienten und Angehörigen auch nachts und am Wochenende. Auch die Funktion des Gutachters zum Beispiel in Unterbringungsverfahren könnte inhaltlich großenteils von Psychologen ausgefüllt werden – hier sind es formale Hürden, die dem im Weg stehen, weil die gesetzlichen Bestimmungen einen Arzt verlangen. Im ersten Fall ist es eher die (noch?) mangelnde Bereitschaft der Psychologischen Psychotherapeuten selbst, das Privileg der Berufstätigkeit zu üblichen Bürostunden aufzugeben.

Und wie steht es um die Leitung von psychiatrischen Stationen, nicht nur mit Leitungsfunktionen im Biotop psychosomatisch-psychotherapeutischer Kliniken bzw. Abteilungen? Wer soll die Verordnung von Psychopharmaka übernehmen, wenn es keine Psycho-Fachärzte mehr gibt – der diensthabende Internist oder Chirurg, dem die Psycho-Kompetenz fehlt, oder der Psychologische Psychotherapeut, dem es an medizinisch-pharmakologischen Kenntnissen mangelt?

Wirksame und umfassende Hilfe bei psychischen Störungen, insbesondere bei vulnerablen Patienten wie alten Menschen, erfordern mehr als ambulante Psychotherapie nach Termin für »therapiegeeignete« Patienten.

Spaltung: Wellness und Selbstoptimierung versus Versinken im gesellschaftlichen Bodensatz

Wenn sich die Bedingungen in den psychiatrischen Kliniken (Gerontopsychiatrie inbegriffen) nicht nachhaltig verbessern, steuern wir in den Aufnahmebereichen auf die »Schlangengrubenpsychiatrie« zu, die man durch die Psychiatriereform in den 1970er und 1980er Jahren überwunden glaubte. Das Image der nach wie vor stigmabehafteten Psychiatrie würde sich weiter verschlechtern, eine Abwärtsspirale. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite wird es noble psychotherapeutische Kliniken und Praxen geben, die Klientele werden sich scheiden. Priebe (2018, 1220f.) prognostiziert eine Spaltung:

»Zum einen werden Psychiater und Psychotherapeuten von immer weiteren Teilen der Bevölkerung zu Rate gezogen, um deren Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit zu steigern. Ihre Rolle reicht dabei von der Krisenbewältigung bis zur allgemeinen Lebensberatung, wobei evidenzbasierte Methoden einen weit geringeren Raum einnehmen als gut vermarktete Interventionen ohne wissenschaftliche Grundlage. Zum anderen werden die schwer psychisch Kranken von der psychiatrischen Gesundheitsversorgung kaum mehr erfasst und leben häufig in Armut. Ihre Versorgung bleibt im Wesentlichen dem Sozial- und auch dem Justizsystem vorbehalten.«

Das heißt, die Ressourcen kommen nicht denen zugute, die am schwersten krank sind und die sie deshalb am dringendsten benötigen würden, sondern denen, die es sich (finanziell und sozial) leisten können; eine Umkehrung, die der englische Mediziner J.T. Hart bereits 1971 als »inverse care law« gebrandmarkt hat.

Wenn man Priebe folgt, stellt sich für Psychologinnen und Psychologen die Frage: »Which side are you on?«

Literatur

Hart JT (1971) The inverse care law. The Lancet 1(7696): 405–412. DOI: 10.1016/s0140-6736(71)92410-x

Priebe S (2018) Wo kann es hingehen mit der Psychiatrie? Nervenarzt 89: 1217–1226. https://doi.org/10.1007/s00115-018-0589-y

Statistisches Bundesamt (2021) Pressemitteilung Nr. N 022 vom 30. März 2021.

Uchtenhagen A (2017) Gastkommentar: Psychiatrie – Die Fachdisziplin ist unentbehrlich. NZZ 26.1.2017.

Der Autor

Dirk K. Wolter, Jahrgang 1956, Dr. med., Psychiater, Psychotherapeut und Geriater. Nach über 25 Jahren in verantwortlicher Position in der Gerontopsychiatrie in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Dänemark zuletzt tätig in einer psychiatrischen Abteilung am Allgemeinkrankenhaus in Schleswig-Holstein und seit April 2023 im Ruhestand.

Kontakt

Dr. med. Dirk K. Wolter
Gravensteiner Weg 4
24939 Flensburg
E-Mail: dirk.k.wolter@gmail.com


Links zu den Angaben

[1] https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2021 (Zugriff 21.06.2023).

[2] https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16393.php (Zugriff 21.06.2023).

[3] https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2021 (Zugriff 21.06.2023). Inzwischen wurde die Ärztestatistik zum 31.12.2022 veröffentlicht: Während die Gesamtzahl aller Psycho-Fachärzte in den Jahren davor noch leicht zunahm (mit abschwächender Tendenz), gab es im letzten Jahr nur einen Nettozuwachs von einem Arzt.

[4] https://www.marburger-bund.de/bundesverband/themen/marburger-bund-umfragen/mb-monitor-2022-zu-wenig-personal-zu-viel-buerokratie (Zugriff 21.06.2023).