Älterwerden in einer Welt der Krisen
Wir leben in einer sich wandelnden Gesellschaft. In ihr erleben wir die Gegenwart als Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit. Gerade liegt eine weltweite Pandemie hinter uns, die unser alltägliches Leben und Arbeiten individuell massiv bestimmte. Gleich darauf begann ein mörderischer Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, welcher Zerstörung, körperliches, psychisches und sozial-gesellschaftliches Leid über viele Menschen brachte. Menschen aus der Ukraine leben jetzt in unserem Land, gehen zur Schule, wollen an unserer Gesellschaft teilhaben und bringen die erlittene Not in Psychiatrien, in Psychotherapien und in der Beratung zum Ausdruck. Am 7. Oktober des letzten Jahres überfielen Terroristen der Hamas israelische Ortschaften und töteten und verschleppten mehr jüdische Menschen, als dies im Rahmen eines Pogroms seit der Shoah geschehen ist. Seither tobt ein Krieg in Israel und in Gaza mit bereits über 30.000 Toten. Die Weltgemeinschaft befindet sich in einem permanenten Krisenmodus; die aktuellen Kriege haben Einflüsse auf das Leben und die politischen Entscheidungen auch in Deutschland.
Bedrohliche Veränderungen, vielfältige Konflikte und gesellschaftliche Krisen erleben wir in unserer pluralistischen Gesellschaft. Nicht jede krisenhafte Entwicklung ist existenziell bedrohlich. Nicht immer geht es um Gewalt und Vernichtung, sondern manchmal auch um Erkenntnis, Weiterentwicklung und Verbesserung unseres Zusammenlebens.
Dies mag auch ein Hinweis auf die spezifische Dynamik von Krisen sein. Der Krisenbegriff hat eine starke medizinische Tradition. Mit der Crisis wird eine Entwicklung beschrieben, in der es zunächst zu einer Zuspitzung und Zunahme an Gefahr und Bedrohung kommt, die zu einem Scheitern, aber auch zu einem Zugewinn, einer Weiterentwicklung führen kann.
Caplan (1963) entwarf ein Modell der »emotionalen Krise« mit einer ihr inhärenten Gesetzmäßigkeit. Dies betrifft eine vorübergehend phasenhafte Entwicklung, die nach einigen Wochen entweder zu einer erfolgreichen Überwindung der Krise oder in ein maladaptives Verhalten führt. Der praktische Vorteil des Konzepts liegt aufgrund des in einer Krise zu beobachtenden erhöhten therapeutischen Einflusses vor allem in der Möglichkeit schneller, direkter und tendenziell direktiver Interventionen. Angesichts der großen gesellschaftlichen Krisen, die in diesem Heft der »Psychotherapie im Alter« angesprochen werden, scheint dieser Faktor der besonderen, auch positiven Entwicklungsfähigkeit von Gesellschaften in der Krise nicht leicht auszumachen zu sein. Vielleicht ist es aber auch ein Spezifikum des Lebens in krisenhaften Zeiten, dass Beteiligte voller Sorge sind und die Wendepunkte zum Gelingen und zur Verbesserung nicht auszumachen vermögen.
Welche Perspektive nehmen das Alter, das Altern und die älteren Menschen auf Krisen in unserer Gesellschaft ein? Wiewohl wir Wissen über die spezifischen Belastungen gesellschaftlicher Krisen im Alter haben (Wirth et al. 2021; Van Winkle et al. 2021; Goldblatt et al. 2022, 2024) gibt es auch Hinweise darauf, dass Ältere aufgrund ihrer Lebenserfahrung und einer gelasseneren Perspektive auf Beziehungen krisenhafte gesellschaftliche Entwicklungen, wie z.B. die Pandemie mit ihren Isolationserfahrungen, besser bewältigen konnten als Jüngere (Bidzan-Bluma et al. 2020). Das Wissen über den Verlauf von Einschränkungen und Belastungen, eine größere Unabhängigkeit von real stattfindenden Beziehungserfahrungen und nicht zuletzt altersbedingte Positivierungstendenzen sprechen dafür, dass gerade Ältere zu einer Bevölkerungsgruppe zählen, die zu einer gelasseneren und bewältigungsorientierten Perspektive auf gesellschaftliche Krisen beitragen kann. Dem steht gegenüber, dass Ältere in Erfahrung der eigenen Vulnerabilität, Schutzlosigkeit und Bedrohung in Sorge und Angst vor Verschlechterungen und um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel geraten können. Gerade traumatische Erfahrungen von Ohnmacht und Hilflosigkeit können dann erneut erlebt werden und eine bewältigungsorientierte Einschätzung der aktuellen Situation verstellen.
Festzuhalten aber bleibt, dass die älteren Menschen eine besondere Aufgabe in sich und in der Gesellschaft tragen: Die Fähigkeit zur Erinnerung, hier besonders zur Erinnerung an Bewältigung, gemeinsames Überstehen belastender Zeiten und die Erfahrung von Kontinuität des Lebens, auch in schwierigen Zeiten.
Vom 17.–18. Januar 2024 fand in Berlin, veranstaltet vom Zentralrat der Juden, ein vielbeachtetes Symposium mit dem bezeichnenden Titel »Erinnern, um #nicht# zu vergessen« statt. Es widmete sich der Erinnerungskultur und Gedenkpolitik in einer pluralistischen Gesellschaft. Wie Sonja Zekri in der Süddeutschen (2024) schrieb, ist eine zentrale Botschaft dieser Konferenz, dass das »Sich Erinnern« des Vergangenen nicht nur zur Bewältigung der krisenhaften Gegenwart, sondern auch zu einem besonnenen Handeln in Zeiten führen kann, in denen wir mit großer Sorge in die Zukunft schauen. Die älteren Menschen unserer Gesellschaft sind die Träger dieser Möglichkeit, sich zu erinnern und zu lernen. Vielleicht bietet dies einen Zugang zu den Wendepunkten unserer Krisen zu Entwicklungen des Friedens, der Toleranz und der gelingenden Möglichkeiten, zu leben.
Das vorliegende Heft der Psychotherapie im Alter behandelt eine Reihe von gesellschaftlichen Krisen, die ältere Menschen betreffen, von ihnen erlebt und bewältigt werden müssen. Die vorgestellten Themen betreffen somit nicht nur die Älteren, können aber in Psychotherapie, Beratung und Behandlung auftauchen und stellen, so die Hoffnung des Herausgebers, Möglichkeiten für Professionelle dar, sich vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit älteren Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten mit wichtigen Krisen der Gesellschaft auseinander zu setzen. Dabei werden sicher nicht alle altersrelevanten gesellschaftlichen Krisen besprochen: Die Bedrohung der Welt durch den Klimawandel, Belastungen durch Veränderungen im Gesundheitssystem, die zunehmende Beunruhigung durch rechtsextreme und populistische Bewegungen und unser Leben mit immer schnelleren Kommunikationsmitteln kommen zum Beispiel nicht zu Wort.
Lange Zeit herrschte bei Babyboomern die Vorstellung vor, mit ihren Kindern bestünden kaum intergenerationale Konflikte. Viele fühlten sich ihren Kindern nahe und in Einigkeit verbunden, bis in den letzten Jahren gesellschaftspolitische Konflikte, wie die Klimakatastrophe, der infrage gestellte Generationenvertrag um die Rente und die Folgen elterlicher Trennungen zu Erfahrungen von Differenz und Konflikt zwischen Babyboomer-Eltern und ihren Kindern führten. Marie Luise Hermann beschreibt diese Generationenkonflikte aus einer psychodynamischen Perspektive.
Susanne Kümpers wendet sich mit einer dezidiert soziologischen Perspektive dem eklatanten Einfluss von Armut auf die Gesundheit zu. Sie trägt eine Vielzahl empirischer Befunde zusammen, die deutlich machen, wie und auf welchem Weg Armut mit Krankheit und früherem Sterben assoziiert ist.
Dorothee Wierling zeigt an Quellen auf, wie die Entwicklung des Redens über den Krieg im 20. Jahrhundert unseren Blick auf dieses grausame menschliche Phänomen verändert hat. Ihr Fazit ist, dass Krieg eben nicht »zivilisatorisch fortschrittlicher« geworden ist, sondern geprägt bleibt von »unkontrollierter Gewalt«. Für Psychotherapeut:innen erschließt sich mit dieser historischen Arbeit ein Einblick in das Reden über den Krieg, durchaus auch mit unterschiedlichen Formen des Umgangs mit der darin erlebten tödlichen Brutalität, Schuld und dem, was sich parallel im 20. Jahrhundert als Traumatheorien entwickelte. Insofern ermöglicht die Arbeit eine Erkenntnis, dass das Reden über den Krieg, wie es auch die heutigen alten Patient:innen tun, eingebettet ist in kulturelle Traditionen und letztlich immer einen unmöglichen Versuch darstellt, Erfahrung und Ausübung tödlicher Gewalt sprachlich zu fassen.
Wilhelm Preuss umreißt die Entwicklung der Veränderungen des Geschlechtsidentitätsdiskurses der letzten Jahrzehnte vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der besonders heutige Jugendliche erfasst. Er stellt jahrzehntlange Auseinandersetzungen mit der zunehmenden Fluidität der Geschlechter als nunmehr alternder Sexualtherapeut dar und kommt zu der Vorstellung, dass sein sehnsüchtiger Rückblick auf das eigene Jugendlichsein dazu beiträgt, sich den Leiden junger Menschen an ihrer Geschlechtsidentität zuzuwenden. Er fasst dabei die queere LGBTQ-Bewegung parallel zur Umweltbewegung »Fridays for Future« als jugendliche Protestbewegung zur Schaffung einer generationalen Identität auf.
Eva-Marie Kessler stützt mit empirischen Ergebnissen die These, dass die aktuelle Debatte um den assistierten Suizid, die im letzten Jahr mit der Ablehnung zweier Gesetzentwürfe zu seiner gesetzlichen Regelung im Bundestag besondere Aufmerksamkeit gewann, ein Ausdruck von Gerontophobie und Ageismus in unserer Gesellschaft ist.
Karima Bergamo präsentiert eine empirische qualitative Studie, in der sie sich der Verhandlung von Suizidalität in der Apotheke annimmt. Diese Studie gehört deshalb in dieses Heft hinein, weil die Apotheke für viele alte Menschen ein zentraler Ort der Suche nach Austausch, Verständnis, Information und Hilfe ist. Apothekerinnen und Apotheker werden von älteren Menschen oftmals mit großem Vertrauen in objektives Wissen und mit Hoffnung auf Verständnis und Zuwendung angesprochen, auch in existenziellen Krisen.
Mein Dank gilt den Autorinnen und dem Autor dieser Ausgabe der Psychotherapie im Alter für ihr besonderes, unbezahltes Engagement für gelingende Beiträge. Herzlich danke ich auch den Reviewern der Artikel, die mit ihren Ratschlägen immer wieder zu einem inhaltlichen Zugewinn beitrugen. Anne Katrin Risch danke ich für ihre Arbeit in der Funktion der geschäftsführenden Herausgeberin, die sie mit dieser Ausgabe der PiA erstmals souverän erfüllt hat.
Reinhard Lindner, Kassel
Literatur
Bidzan-Bluma I, Bidzan M, Jurek P, Bidzan L, Knietzsch J, Stueck M, Bidzan M (2020) A Polish and German Population Study of Quality of Life, Well-Being, and Life Satisfaction in Older Adults During the COVID-19 Pandemic. Front. Psychiatry 11:585813. doi: 0.3389/fpsyt.2020.585813
Caplan G (1963) Emotional Crises. In: A. Deutsch (Hrg.) The Encyclopedia of Mental Health. Metuchen, N.J. (Mini-Print Corporation) 521–532.
Goldblatt MJ, Casado Sastre CM, Briggs S, Lindner R (2022) Isolation, loneliness and aloneness in the age of Covid-19: Reflections on clinical experiences. British Journal of Psychotherapy 38(4): 738–753. https://doi.org/10.1111/bjp.12771
Goldblatt MJ, Ronningstam E, Briggs S, Lindner R, Teising M (2024) The experience of trauma that converts to destruction of the self: a consideration of suicidal attack during times of global distress, The Scandinavian Psychoanalytic Review. https://doi.org/10.1080/01062301.2024.2303568
Wirth R, Becker C, Djukic M, Drebenstedt C, Heppner HJ, Jacobs AH, Meisel M, Michels G, Nau R, Pantel J, Bauer JM (2021) COVID-19 im Alter – Die geriatrische Perspektive. Gerontol Geriat 54:152–160. https://doi.org/10.1007/s00391-021-01864-0
Van Winkle Z, Ferragina E, Reggi E (2021) The Unexpected Decline in Feelings of Depression among Adults Ages 50 and Older in 11 European Countries amid the COVID-19 Pandemic. Sociological Research for a Dynamic World 7: 1–11 DOI: 10.1177/2378023121103274
Zekri, S. (2024) Zentralrat der Juden in Deutschland. »Das ist traurig«. Süddeutsche Zeitung 19.01.2024.
Kontakt
Prof. Dr. med. Reinhard Lindner
Universität Kassel
Fachbereich Humanwissenschaften
Institut für Sozialwesen
Arnold-Bode-Str. 10
34127 Kassel
E-Mail: reinhard.lindner@uni-kassel.de