»Persönlichkeitsstörungen: Neue Modelle, neue Therapie?«

Mit der Einführung des ICD-11 durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2022 beginnt eine neue Ära, die neue Modelle in der Diagnostik umsetzt und damit auch neue innovative Ansätze in der Therapie ermöglicht. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern dieser neue diagnostische Ansatz für ältere Patient:innen mit Persönlichkeitsstörungen relevant ist und deren Behandlung verbessern kann.

Persönlichkeitsstörungen sind bei Älteren weniger erforscht als in jüngeren Populationen, doch sie sind keineswegs selten. Studien zeigen heterogene Befunde in den Prävalenzraten, jedoch liegen diese mit bis zu 10% (Segal et al. 2006) auf vergleichbarem Niveau wie in jüngeren Erwachsenenpopulationen (Volkert et al. 2018). Zudem können Persönlichkeitsstörungen auch bei Älteren zu erheblichen Einschränkungen und Belastungen führen, sowohl für die Betroffenen als auch für ihr soziales Umfeld: sie sind häufiger von komorbiden Störungen betroffen, darunter Depressionen und Angststörungen, was zusätzlich zu einer Verschlechterung der Lebensqualität und zu erhöhten Gesundheitskosten führt (Reynolds et al. 2011).

Den bedeutendsten Wandel im ICD-11 stellt der Übergang zu einem dimensionalen Ansatz in der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen dar. Anstelle der bisherigen kategorialen Klassifikation, die verschiedene Störungsbilder strikt voneinander abgrenzt, berücksichtigt der neue Ansatz die individuelle Ausprägung und Schwere der Symptome auf einem Kontinuum. Das ICD-11-Modell sieht vor, dass Persönlichkeitsstörungen nun anhand des Grades der Beeinträchtigung der Persönlichkeitsfunktion und der maladaptiven Persönlichkeitsmerkmale diagnostiziert werden. Dieser Ansatz ermöglicht es, Persönlichkeitsstörungen als dynamische und veränderliche Zustände (auch im Alter) zu begreifen, was sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie eine erhebliche Flexibilität und gleichzeitig die Chance einer spezifischeren Indikationsstellung bietet.

Das Erkennen von Persönlichkeitsstörungen war bisher im Alter oft erschwert. Die Symptome können sich mit altersbedingten kognitiven und körperlichen Veränderungen überlappen oder aufgrund von altersbedingten Stereotypen fehlinterpretiert werden. Daher ist eine adäquate Diagnostik entscheidend, um Leiden zu verringern und eine angemessene Behandlung zu gewährleisten. Der neue ICD-11-Ansatz birgt die Chance diese Schwierigkeiten zu überwinden. Der dimensionale Ansatz ermöglicht es, spezifische Ausprägungen von Persönlichkeitsfunktionen und -merkmalen genauer zu erfassen. Dies ist besonders wichtig, da sich Persönlichkeitsstörungen im Laufe des Lebens verändern können. So können beispielsweise Menschen, die in jüngeren Jahren eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hatten, im Alter weniger impulsiv, aber nach wie vor emotional instabil sein. Der neue Ansatz erlaubt es somit, solche Veränderungen besser zu dokumentieren und zu berücksichtigen.

Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass die Neuerungen im ICD-11-System große Parallelen zu psychodynamischen Ansätzen zeigen, wie dem Modell der Persönlichkeitsorganisation von Otto Kernberg (1984) und der Strukturachse in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD-3; 2022). Kernbergs Modell der Persönlichkeitsorganisation beinhaltete bereits einen dimensionalen Ansatz mit den Dimensionen Identitätsdiffusion, Abwehrmechanismen und Realitätsprüfung (Kernberg 1984). Auch die OPD, die sich in der deutschsprachigen Psychotherapie als diagnostisches psychodynamisches Instrument etabliert hat, verfolgt einen multidimensionalen Ansatz. Sie berücksichtigt die Einschätzung der Persönlichkeitsstruktur u.a. in den Bereichen Selbst- und Objektwahrnehmung, Selbstregulation und Regulation des Objektbezugs, Kommunikation nach Innen und Außen sowie Bindung an innere und äußere Objekte (2022). Diese Bereiche finden sich auch mit großer Überschneidung in der neuen ICD-11 Diagnostik wieder.

Dieses Heft beginnt mit zwei Übersichtsarbeiten, die eine Einführung in die neue Diagnostik im ICD-11 für Persönlichkeitsstörungen geben. Walter und Berberich stellen das neue System für die Anwendung bei Älteren vor, Hartkamp stellt insbesondere methoden-integrative Überlegungen für die Behandlung an. Anschließend folgen ein Klinischer Fall von Engelhardt und von der Stein zur anspruchsvollen therapeutischen Begleitung von Palliativpatientinnen mit narzisstischer Persönlichkeitsakzentuierung. Peters widmet sich der bisher wenig beachteten, zwanghaften Persönlichkeitsstörung im Alter. In der anschließenden empirischen Arbeit werden von Hamm et al. Ergebnisse einer Studie zur psychischen Belastung im Zusammenhang mit transdiagnostischen Faktoren – wie Persönlichkeitsmerkmalen – bei Älteren während der Pandemie vorgestellt.

Die flexiblere und differenzierte Diagnostik eröffnet neue Möglichkeiten für die Therapie. Aus den dimensional eingeschätzten Persönlichkeitsfunktionen und -merkmalen lassen sich direkte Ableitungen für die Indikationsstellung und Formulierung von Therapiezielen treffen. Zeigt eine Patientin, z.B. v.a. Einschränkungen im Bereich der Identität mit starkem Erleben von Identitätsdiffusion, mangelndem Erleben von Selbstwirksamkeit oder Empathiefähigkeit, können diese Probleme in der Therapie vorrangig thematisiert und bearbeitet werden. Darüber hinaus unterstützt der neue Ansatz im ICD-11 die Integration von psychoedukativen Elementen, die den Patient:innen helfen, ihre eigene Persönlichkeit (und Persönlichkeitsstörung) besser zu verstehen und damit umzugehen. Dies kann die Selbstwirksamkeit der Patient:innen erhöhen und zur Reduktion von Stigmatisierung beitragen.

Die klinische Praxiserprobung des neuen Systems und damit auch die empirische Überprüfung der klinischen Nützlichkeit hat eben erst begonnen. Wir dürfen gespannt sein, wie es sich in den nächsten Jahren entwickelt. Ich hoffe hiermit schon heute Ihr Interesse für eine Einführung in das Thema geweckt zu haben und wünsche Ihnen viel Freude und hoffentlich auch interessante neue Einblicke bei der Lektüre dieses Heftes.

Jana Volkert, Ulm

Literatur

Arbeitskreis OPD (2023) Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-3. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Bern (Hogrefe).

Kernberg OF (1984) Severe Personality Disorders. Psychotherapeutic Strategies. New Haven (Yale University Press).

Reynolds K, Pietrzak RH, El-Gabalawy R, Mackenzie CS, Sareen J (2011) Prevalence of psychiatric disorders in US older adults. Findings from a nationally representative survey. World Psychiatry 10: 102–110.

Segal DL, Coolidge FL, Rosowsky E (2006) Personality disorders and older adults. Diagnosis, assessment, and treatment. New Jersey (John Wiley & Sons).

Volkert J, Gablonski TC, Rabung S (2018) Prevalence of personality disorders in the general adult population in Western countries. Systematic review and meta-analysis. The British Journal of Psychiatry 213: 709–715.

Volkert J, Weiland AM (2024) Veränderungen in der Diagnostik von Persönlichkeits-störungen in der ICD-11. Psychotherapie 69, 172–178.

WHO (2022) ICD-11 clinical descriptions and diagnostic guidelines for mental and behavioural disorders. World Health Organisation, Geneva (gcp.network/en/private/icd-11-guidelines/disorders).

Kontakt

Jana Volkert
Sektion Translationale Psychotherapie
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universität Ulm
Albert-Einstein-Allee 23
81093 Ulm


 

 

Jana Volkert (Ulm): Editorial zum Themenheft
Persönlichkeitsstörungen: Neue Modelle, neue Therapie?