Reinhard Lindner (Kassel):

»Deutschland braucht eine effektive Suizidprävention«. Der Kasseler Aufruf 2023 (PDF)

Am 6. Juli 2023 stimmte der Deutsche Bundestag über zwei Gesetzentwürfe zur Regelung des assistierten Suizids ab. Dem vorausgegangen war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020, in dem die Richter postuliert hatten: »Das Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen« (BVerfG 2020). Dies bedeutet, dass es keine Beschränkung geben darf, die nur einer bestimmten Gruppe den Zugang zum assistierten Suizid ermöglicht. Allerdings hatten die Richter eingeräumt, dass der Zugang durch Schutzklauseln eingeschränkt sein darf, wenn Personen nicht freiverantwortlich über diese Art des Lebensendes entscheiden können. Die daraufhin im Parlament entwickelten beiden Gesetzesentwürfe richteten diese Schutzklauseln ein: Ein Entwurf ging von der Freiheit zum Suizid für jedermann aus und schränkte diese dadurch ein, dass zunächst eine ergebnisoffene Beratung erfolgen müsse, bevor man dann nach 3–12 Wochen Wartezeit das tödliche Medikament bekommt (Bundestag 2023a). Der andere Entwurf war erneut – wie das einkassierte Gesetz zum Verbot der gewerbsmäßigen Sterbehilfe (§217 StGB) – im Strafgesetzbuch verankert. Er verbot den assistierten Suizid und fügte eine Regelung ein, der zufolge es nach ärztlicher Feststellung der Willensfreiheit möglich ist, durch eigenes Tun mithilfe anderer zu sterben. Zudem, so dieser Entwurf, habe eine ergebnisoffene Beratung in einer unabhängigen Einrichtung zu erfolgen, in der Informationen über Hilfen bei psychosozialen und finanziellen Konflikten sowie eine Vermittlung an psychosoziale Hilfsdienste angeboten würden (Bundestag 2023b). Beide Gesetzentwürfe wurden vom Bundestag abgelehnt. Eine Vielzahl von Institutionen, zum Beispiel die Bundesärztekammer und Einrichtungen der Altenhilfe, hatten zuvor erhebliche Bedenken gegenüber derartigen Regelungen geäußert. Daher ist der assistierte Suizid in Deutschland zurzeit ungeregelt und für jede Person möglich.

Zeitgleich verabschiedete der Deutsche Bundestag mit beinahe einstimmiger Mehrheit eine Entschließung zur Förderung der Suizidprävention und beauftragte die Bundesregierung mit der Entwicklung einer Nationalen Suizidpräventionsstrategie (Bundestag 2023c). Das Bundesministerium für Gesundheit hatte damit bereits Anfang 2023 begonnen, da auch der Haushaltsausschuss des Bundestages im November 2022 einen entsprechenden Auftrag erteilt hatte. Unter Federführung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) erarbeitet derzeit eine Firma (IGES GmbH) mit Erfahrungen in der Entwicklung von Infrastruktur im Gesundheitswesen entsprechende Vorschläge, die 2024 vorgestellt werden sollen. Expert:innen und Institutionen der Suizidprävention, wie das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) und die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS), wurden befragt und konnten zu einigen Aspekten ihre fachliche Einschätzung geben. Auch Expert:innen aus der Altenhilfe, wie der Deutsche Pflegerat, das BMFSFJ und Träger der Altenhilfe, wie Caritas und Malteser, sind involviert.

Soweit aktuell erkennbar, ist wesentlicher Inhalt der neuen Suizidpräventionsstrategie die Gründung einer zentralen Koordinations- und Informationsstelle für Suizidprävention, die einerseits Betroffene und ihr Umfeld informiert (Hotline- und Online-Dienst), andererseits aber auch Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit und weitere politische und gesetzgeberische Initiativen zum Ziel hat. Unsicher ist, ob hiermit der eindeutige Auftrag des Parlamentes erfüllt wird, nämlich: gerade niedrigschwellige Einrichtungen der Suizidprävention zu fördern, dazu Gatekeepertrainings für eine Vielzahl von Berufen durchzuführen, den Zugang zu Suizidmitteln zu erschweren und das öffentliche Gespräch über Fragen des Lebensendes sowie der Abhängigkeit in helfenden und tragenden Beziehungen zu erleichtern.

Aus diesem Grund haben Expert:innen der Suizidprävention im Oktober 2023 den Kasseler Aufruf zur Suizidprävention unterzeichnet (ca. 200 Unterzeichnende am 1.11.2023) (NaSPro 2023). Sie fordern Parlamentarier des Bundestages auf, den klaren Worten des Entschließungsantrags vom Juli 2023 konkrete Taten folgen zu lassen und in den Haushalt 2024 einen Betrag von 20 Millionen Euro einzustellen. Hiermit soll eine zentrale Informations- und Koordinationsstelle zur Suizidprävention mit einer allzeit erreichbaren Telefonnummer gefördert werden, bei der Betroffene, Angehörige, Helfende und Interessierte schnell und kompetent beraten werden. Damit sind untrennbar der Erhalt, der Ausbau, die Vernetzung und die auskömmliche Finanzierung qualifizierter regionaler, niedrigschwelliger suizidpräventiver Angebote (inkl. Telefon- und Onlineangebote) verbunden, auch für Hinterbliebene nach Suizid und Angehörige suizidaler Menschen. Außerdem gilt es, den Erhalt und weiteren Ausbau bestehender palliativer und hospizlicher Hilfen am Lebensende sowie von Trauerbegleitungsangeboten zu finanzieren, denn sie sind wichtige Bestandteile der Suizidprävention. Last but not least muss das Nationale Suizidpräventionsprogramm als Netzwerk der Fachpersonen und Institutionen der Suizidprävention weiterhin langfristig gefördert werden.

Was bedeutet dies für das Feld der Hilfen und Unterstützungen im Alter? Obwohl wissenschaftlich fundierte Daten über assistierte Suizide in Deutschland nicht vorliegen, gibt es eindeutige Hinweise darauf, dass Menschen, die den assistierten Suizid erwägen und durchführen, sehr häufig im höheren Lebensalter sind (Castelli Dransart et al. 2019; Batzler et al. 2023). Körperliche Erkrankungen und psychosoziale Notlagen scheinen dabei zentrale Auslöser darzustellen. Bereits seit längerem ist bekannt, dass Lebensmüdigkeit, Sterbewünsche und das Anliegen eines assistierten Suizids bei Patient:innen der Geriatrie recht häufig sind (Sperling et al. 2009; Lindner et al. 2014). Zudem sind viele Einrichtungen der Altenhilfe aktuell mit der Frage befasst, wie sie mit derartigen Anliegen umgehen.

Es gibt berechtigte Sorgen, dass die Institutionen der Altenhilfe nicht ausreichend bei der Entwicklung und Förderung von effektiven Hilfen zur Suizidprävention im höheren Lebensalter unterstützt werden. So kann ein gesellschaftliches Klima entstehen, in dem sich der assistierte Suizid als eine akzeptierte, ja geförderte Form des Sterbens im Alter etabliert und damit die grundsätzliche gesellschaftliche Solidarität und Unterstützung für alte, multimorbide und sterbende Menschen aufgebrochen wird. Daher ist es unbedingt notwendig, psychosoziale Hilfen im hohen Alter zu stärken, niedrigschwellige Zugänge zu Therapie und Beratung im Pflegeheim zu ermöglichen, das Wissen über und die Verfügbarkeit von palliativen und hospizlichen Hilfen auch bei Hochbetagten zu steigern und die Kompetenz von Professionellen und Ehrenamtlichen der Altenhilfe wie auch von pflegenden Angehörigen (Eggert et al. 2023) im Gespräch mit lebensmüden und suizidalen älteren Menschen zu fördern.

Die Förderung der Suizidprävention ist ein langfristiges Ziel, das auch eine langfristige finanzielle Ausstattung erfordert. Dazu bedarf es eines konzertierten gesellschaftlichen Willens. Sie können dazu beitragen, indem Sie den Kasseler Aufruf (NaSPro 2023) unterzeichnen[1]. Senden Sie dafür eine E-Mail mit Ihrem Namen, Ort, ggf. Ihrer Funktion in einer Institution[2] an aufruf@naspro.de. Damit stimmen Sie der Veröffentlichung Ihres Namens unter dem Kasseler Aufruf zu. Sprechen Sie auch Ihre Bundestagsabgeordneten an! Bitten Sie diese, sich für die Suizidprävention im nächsten Jahr einzusetzen und gesetzliche Regelungen zu ihrer Stärkung zu erarbeiten und zu befördern.

Literatur

Batzler YN, Melching H, Schallenburger M, Schwartz J, Neukirchen M, Bausewein C (2023) Reasons for wanting assisted suicide – a retrospective evaluation of telephone enquiries. Dtsch Ärztebl Int 120: 754–755.

Bundestag (2023a) Drucksachen (Deutscher Bundestag) 20/2293. https://dserver.bundestag.de/btd/20/022/2002293.pdf

Bundestag (2023b) Drucksachen (Deutscher Bundestag) 20/904. https://dserver.bundestag.de/btd/20/009/2000904.pdf

Bundestag (2023c) Drucksachen (Deutscher Bundestag) 20/7630. https://dserver.bundestag.de/btd/20/076/2007630.pdf

Bundesverfassungsgericht 2020: Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig Pressemitteilung Nr. 12/2020 vom 26. Februar 2020.

Castelli Dransart DA, Lapierre S, Erlangsen A, Canetto SS, Heisel M, Draper B, Lindner R, Richard-Devantoy S, Cheung G, Scocco P, Gusmão R, De Leo D, Inoue K, De Techterman V, Fiske A, Hong JP, Landry M, Lepage AA, Marcoux I, Na PJ, Neufeld E, Ummel D, Winslov JH, Wong C, Wu J, Wyart M (2019) A systematic review of older adults’ request for or attitude toward euthanasia or assisted-suicide. Aging Ment Health 25:420–430.

Eggert S, Haeger M, Teubner C, Sperling U, Drinkmann A, Lindner R, Kessler E-M, Schneider B (2023) Lebensendlichkeit, Lebensmüdigkeit und Suizidprävention im Kontext von Pflegebedürftigkeit – Eine Befragung pflegender Angehöriger. Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) mit dem Nationalen Suizidpräventionsprogramm (NaSPro). https://www.zqp.de/wp-content/uploads/Abschlussbericht_ZQP_NaSPro_Lebensmuedigkeit.pdf (letzter Abruf: 11.11.23)

Lindner R, Foerster R, von Renteln-Kruse W (2014) Physical distress and relationship problems. Exploring the psychosocial and intrapsychic world of suicidal geriatric patients. Z Gerontol Geriat 47: 502–507.

NaSPro (2023) Kasseler Aufruf 2023. Deutschland braucht eine effektive Suizidprävention. https://www.suizidpraevention.de/datenschutz/detail?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=19&cHash=c433e2aef8db09c5efb8e37038feeb4e

Sperling U, Thüler C, Burkhardt H, Gladisch R (2009) Äußerungen eines Todesverlangens. Suizidalität in einer geriatrischen Population. Suizidprophylaxe 36(1): 29–35.

Kontakt

Univ.-Prof. Dr. med. Reinhard Lindner
Universität Kassel
Institut für Sozialwesen
Fachbereich Humanwissenschaften
FG Theorie, Empirie und Methoden der Sozialen Therapie
Arnold-Bode-Str. 10, Raum 2216
34127 Kassel
E-Mail: Reinhard.Lindner@uni-kassel.de


[1] https://www.suizidpraevention.de/datenschutz/detail?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=19&cHash=c433e2aef8db09c5efb8e37038feeb4e

[2]Die Angabe der Institution gilt nur zur Kennzeichnung der Person.

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