Zum Titelbild von Bertram von der Stein

Bertram von der Stein (Köln)

Das Titelbild zeigt einen Fußgängertunnel unter einer Eisenbahnstrecke im Kölner Norden. Der Tunnel dient als Symbol für die Engpässe, Drangsale, Ängste und Hoffnungen einer Epoche, einer Gruppe oder einer Person. Jahrelang verwahrlost, feucht, mit Graffiti beschmiert und von wucherndem Pflanzenwuchs befallen, könnte er einstürzen. Er ist dunkel, schlüpfrig und schmutzig. Soll man ihn wirklich durchschreiten? Rutscht man vielleicht aus und stürzt? Was erwartet uns am anderen Ende? Fühlt man sich durch das Licht am Ende des Tunnels ermutigt, Ängste zu überwinden und auf die andere Seite zu kommen? Erwarten die Passanten Befreiung, Erleichterung und Trost oder erneute Konflikte, Beschwernisse, bedrohliche Angriffe?

Aktuelle politische Krisen führen zu Sorgen, Ängsten und zugespitzten Reaktionen, die auch Ältere betreffen. Dies, zumal älteren Menschen der Wiederholungscharakter im Erleben von Katastrophen auffällt. Krisen durch Veränderungen der Lebensbedingungen, durch politische Machtverschiebungen und Kriege sind kein neues Phänomen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Veränderungen besorgniserregende Katastrophen nach sich zogen. Man denke nur an die »kleine Eiszeit« ab etwa 1300 in Europa, die Völkerwanderung und die Pest, die Cholera und die Grippewellen vergangener Jahrhunderte. Bereits Freud behandelte Kriegsthemen (Freud 1915b; 1933b). Die aktuellen Pandemiekrisen, die Kriegsgefahr und der Klimawandel haben Vorläufer.

In gesellschaftlichen Krisen verbinden sich im innerseelischen Erleben innere und äußere Realität (Kernberg 1980). Krisenhafte Zeiten sind immer doppeldeutig auf individueller und auf kollektiver Ebene. Dabei ist die Befürchtung, Geschichte könne sich wiederholen, sowohl im Hinblick auf repetitive politische Phasen und Kriege als auch in Bezug auf Neuauflagen von Konflikten und auf transgenerationale Traumaweitergabe (Bohleber 2011). Traumata führen persönliche und kollektive Krisen zusammen. Die Weltuntergangsstimmung depressiver Menschen, die zu jeder Zeit die überwiegend negativen Nachrichten in den Medien als Bestätigung ihrer pessimistischen Weltsicht verstehen, ist bekannt. Die Apokalypse scheint nah; ihre Propheten erheben erneut ihren Stimmen.

Aber was hat das Alter speziell mit Krise zu tun? Man kommt dabei ganz automatisch an Selbstverständlichkeiten, die jedoch, wenn sie das Individuum konkret treffen, sehr bitter sein können: Es fängt meist mit der sogenannten »Krise im mittleren Lebensalter« an, die in Wirklichkeit eine Krise des frühen Alters ist. Krisen der Menschen sind vielfältig, aber doch auch ähnlich: Erste gesundheitliche Probleme wie Herz-Kreislauferkrankungen, Tumorerkrankungen, körperliche Verschleißerscheinungen lassen den Körper zum Organisator psychischer Entwicklung werden. Gratifikationskrisen in Form von Arbeitsplatzkonflikten, Nachfolgediskussionen und Berentungsfragen führen oft zu Ohnmachts- und Grenzerfahrungen. Darüber täuschen auch oft wiederholte euphemistische Aussagen von der Krise als Chance nicht hinweg. Trotz aller neuen Möglichkeiten der gewonnen Lebensjahre kann die brutale Wahrnehmung von Irreversibilität, von verpassten Chancen oder nie gehabten Möglichkeiten krisenhafte Ausmaße annehmen. Die Begrenztheit des Lebens und der Tod sind immer weniger zu verleugnen. So ist Krisenangst auch Todesangst. Angesichts existenzieller Grundfragen, die im Alter noch schroffer zutage treten können, sind psychoanalytische Konzepte hilfreich: Konzepte über Trauern (Freud 1916; 1917g), Angst (Dott 2018), genügend gute Beziehungen (Winnicott 1976), Empathie (Körner 1998; Fonagy et al. 2004) und über Lebensphasen-spezifische Herausforderungen (Erikson 1959). Sie können Hilfen anbieten, z.B. bei in Krisen oft gestellten Fragen, was angesichts einer verbleibenden »Restlaufzeit« noch möglich ist und von welchen Wünschen man sich trauernd verabschieden sollte. Dies sind Aufgaben von Psychotherapie im Alter bzw. einer Begleitung in der letzten Phase des Lebens. Da bei grundsätzlichen Lebensfragen der Horizont der eigenen Endlichkeit erkennbar wird, tauchen selbstverständlich philosophische und theologische Sinnfragen auf, die auch Therapeutinnen und Therapeuten krisenhaft berühren können. Das kann dazu beitragen, sehr konkret und radikal zu klären, was wirklich hilfreich ist und welche Hilfe man selbst leisten kann. Gerade die krisenhafte Erfahrung der eigenen Ohnmacht und Ratlosigkeit kann dazu führen, kreativ und pragmatisch mit anderen Berufsgruppen in der Behandlung von Älteren zu kooperieren.

Literatur

Bohleber W (2011) Trauma – Transgenerationelle Weitergabe und Geschichtsbewusstsein. In: Hondrich C (Hg) Vererbte Wunden – Traumata des Zweiten Weltkrieges – die Folgen für Familie, Gesellschaft und Kultur. München (Pabst) 9–25.

Dott P (2018) Todesangst und posttraumatisches Selbst. Gießen (Psychosozial).

Erikson E (1959/1988) Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).

Fonagy P, Gergely G, Jurist EL, Target M (2004) Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart (Klett-Cotta).

Freud S (1915b) Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X: 323–355.

Freud S (1916/1917g) Trauer und Melancholie. GW X: 428–446.

Freud S (1933b) Warum Krieg? GW XVI: 1–27.

Kernberg O (1980) Innere Welt und äußere Realität. München, Wien (Verlag Internationale Psychoanalyse).

Körner J (1998) Einfühlung: Über Empathie. Forum der Psychoanalyse 14 (1): 1–17.

Winnicott DW (1976) Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. München (Kindler).

Kontakt

Prof. Dr. Bertram von der Stein
Quettinghofstr. 10°
50769 Köln
E-Mail: Dr.von.der.Stein@netcologne.de

Krisen als Tunnel ins Ungewisse? Zum Themenheft:
Gesellschaftliche Krisen