Nur eine Randnotiz oder doch mehr?

Zur sinkenden Lebenserwartung in Deutschland

Meinolf Peters

Vor Kurzen entdeckte ich im hinteren Teil einer Zeitung eine Nachricht, die offenbar als Randnotiz behandelt wurde. Der kleine Artikel ganz am Rande bezog sich auf die sinkende Lebenserwartung in Deutschland. Aber nicht nur das ließ mich innehalten, auch war dem Artikel zu entnehmen, dass wir in Europa zu den Schlusslichtern in der Lebenserwartung zählen. Jetzt war mein Interesse erst recht geweckt, und ich machte mich daran, dem weiter nachzugehen. Die Nachricht stützte sich auf Informationen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung. Als ich mich auf deren Seiten begab und in die Daten vertiefte, stellt sich alles noch schlimmer dar: Der Abstand zum restlichen Europa hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten stetig vergrößert. Wer in Deutschland im Jahr 2022 geboren wurde, hat eine durchschnittliche Lebenserwartung von 80,55 Jahren. In Westeuropa insgesamt sind es dagegen 82,25 Jahre. Also 1,7 Jahre mehr. Im Vergleich dazu: Im Jahr 2000 waren es noch 0,7 Jahre Unterschied. Besonders groß ist der Abstand bei den Männern, sie werden im Durchschnitt in Deutschland 78,17 Jahre alt, im gesamten Westeuropa dagegen 79,94 Jahre, ein Unterschied von 1,8 Jahren. Für Frauen liegt die Differenz bei 1,4 Jahren. Krass ist etwa ein Vergleich mit Spanien, in dem Frauen etwa drei , Männer zwei Jahre länger leben.

Die Fakten waren also rasch geklärt, doch eine Frage blieb offen: Warum war das den Medien nur eine Randnotiz wert, warum schaffte es diese Nachricht nicht auf die erste Seite? Warum gab es keinen Aufschrei wie bei anderen, viel belangloseren Fragen? Oder haben wir uns schon so sehr daran gewöhnt, dass Deutschland hinterherhinkt, an die marode Infrastruktur, das Chaos bei der Bahn, die erbärmliche Digitalisierung, die unzureichende Ausstattung des Bildungswesens und anderes mehr, sodass wir die Nachricht, dass uns Lebensjahre genommen werden, gleichmütig hinnehmen? Ist es ähnlich wie bei den immer katastrophaleren Nachrichten über den fortschreitenden Klimawandel, den die Menschen vielleicht noch zur Kenntnis nehmen, dessen Bedrohungspotenzial sie aber dissoziieren? Was ist hier los?

Kommen wir zur Sache, warum hinken wir in der Lebenserwartung so hinterher? Jahrzehnte ging die Entwicklung immer nur in eine Richtung, jedes Jahr verlängerte sich die durchschnittliche Lebenserwartung um ca. drei Monate bei Männern und zwei Monate bei Frauen, nun scheint diese Entwicklung erst einmal gestoppt zu sein. Was sind die Gründe dafür? Der Hauptgrund sind die vielen Sterbefälle infolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die bei uns viel höher sind als im europäischen Ausland. Und das wiederum liegt v.a. an einer unzureichenden Prävention, die trotz der pro Kopf höchsten Ausgaben für Gesundheit in Europa lange Zeit vernachlässigt wurde. Alles das ist nicht neu, doch erst der jetzige, so gescholtene Bundesgesundheitsminister Lauterbach ist gerade dabei, das »Gesunde-Herz-Gesetz« auf den Weg zu bringen und damit Allen regelmäßigen Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen zu ermögliche sowie ein Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung zu gründen, um diesen Missstand endlich zu beheben.[1]

Ein weiterer Faktor ist die Ernährung, hierzulande ein ganz besonders heikles Thema. 67% der Männer und 53% der Frauen sind übergewichtig. Doch weist jemand auf die Bedeutung einer gesunden Ernährung hin, denn dann folgt auf dem Fuße (die GRÜNEN können ein Lied davon singen): »Wir lassen uns nichts vorschreiben«, und das ertönt sogar dann, wenn es nur um Ratschläge oder Empfehlungen geht. Meistens ist es Markus Söder, der als Erster ruft. Er lässt sich besonders gern mit einem fetttriefenden Burger oder Ähnliches in sich hineinstopfend ablichten. Wer bei solchen Bildern immer noch Lust auf Fleisch hat, ist selbst schuld. Wie ideologiebehaftet dieses Thema bei uns ist, machte jüngst der vergebliche Versuch von Landwirtschafts- und Ernährungsminister Özdemir deutlich, die Werbung für stark zuckerhaltige Süßigkeiten einzuschränken, um wenigstens unsere Kinder besser zu schützen. Kaum waren diese Pläne publik geworden, gab es einen Aufschrei in Teilen unserer Gesellschaft, da waren auch die selbsternannten Freunde der Freiheit von der FDP zur Stelle und riefen: Freiheitseinschränkung; dass es um die Freiheit der Lebensmittelkonzerne ging, geschenkt. Aktuell wird über eine Zuckersteuer diskutiert, die es in anderen Ländern längst gibt, und was folgt, ist bestens bekannt. Wen wundert es in einer solchen ideologisch aufgeladenen Gesellschaft, dass Folgen nicht ausbleiben. Jedenfalls zahlen wir alle den Preis dafür, indem wir auf ein paar Jahre Lebenszeit verzichten. Übrigens: Dänemark hat gerade eine CO2-Steuer auf Fleisch beschlossen, gut für die Gesundheit, gut fürs Klima. Man stelle sich vor, einen solchen Vorschlag würde hierzulande jemand machen!

Ein weiterer Faktor, der sich in der sinkenden Lebenserwartung bemerkbar machen dürfte, ist die anwachsende Altersarmut, denn die Lebenserwartung ist in erheblichem Maß schicht- bzw. einkommensabhängig. Laut Robert-Koch-Institut haben Frauen in der höchsten Einkommensgruppe eine um mehr als vier Jahre höhere Lebenserwartung als Frauen in der niedrigsten Gruppe. Bei Männern beträgt diese Differenz sogar mehr als acht Jahre.[2] Auch dies ein gesellschaftlicher Missstand über den niemand spricht und, wie gesagt, die Altersarmut nimmt zu.

Wir sollten uns nicht einfach mit dieser Entwicklung abfinden, wir alle möchten möglichst lange leben, und das in Gesundheit, auch ein Markus Söder. Doch dafür müssen wir bereit sein, unsere Lebensgewohnheiten zu überdenken, uns mehr bewegen, besser ernähren und v.a. die ideologischen Scheuklappen ablegen. Und ja, es ist auch Aufgabe jedes Einzelnen, möglichst gesund zu leben, aber es ist eben auch Aufgabe der Politik, auf problematische Entwicklungen zu reagieren und die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Doch wie mögen unsere Freiheitsfreunde von der FDP darüber denken? Man kann es sich vorstellen.

[1] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/praeventions-institut-im-aufbau-pm-04-10-23 (Zugriff 20.08.2024).

[2] https://www.aok.de/pp/gg/update/rki-bericht-zur-armut/ (Zugriff 20.08.2024).