»Deutsche Einheit im Prozess - Ein Zwischenstand«

Im Jahr 1990, zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung, lebten im früheren westdeutschen Bundesgebiet (ohne Berlin-West) etwa 62 Millionen Menschen, was der vierfachen Bevölkerung der ostdeutschen Bundesländer (ohne Berlin) mit rund 15 Millionen Menschen entsprach. Heute sind es in Westdeutschland 68 Millionen (ein Anstieg um 10%), während die Zahl im Osten auf zwölf Millionen sank (ein Abfall um 15%) (Statistisches Bundesamt 2024). Im Jahr 2022 liegt der Anteil der 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung im Osten mit 27% über dem Anteil von 21% im Westen (Statistisches Bundesamt 2024). Auch die Alterung der Gesellschaft schreitet im Osten schneller voran.

Die 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen beträgt 28% in den neuen und 32% in den alten Bundesländern. Das Lebenszeitrisiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, beträgt 38,5% in ostdeutschen gegenüber 44% in westdeutschen Bundesländern. Darüber hinaus ergeben sich für Einzeldiagnosen (z.B. Substanzstörungen, unipolare Depressionen oder Essstörungen) tendenziell höhere Morbiditätsraten in den alten Bundesländern. Im Gegensatz dazu liegt die Lebenszufriedenheit in verschiedenen Lebensbereichen in den neuen Bundesländern unter jener in den alten Bundesländern (Jacobi et al. 2006). 

In Bezug auf die psychische Gesundheit älterer Menschen finden sich keine regionalen Unterschiede in West- und Ostdeutschland (Gaertner et al. 2023). Die Prävalenzen der ausgewählten Gesundheitsindikatoren unterscheiden sich zwischen West- und Ostdeutschland um maximal 3,5% bei der subjektiven Gesundheit (ebd.). Der Report Psychotherapie 2021 (DPtV) berichtet auf Grundlage einer Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) von 2019, dass es zwischen westlichen und östlichen Bundesländern keine wesentlichen Unterschiede in der Inanspruchnahme von Psychotherapie gibt (KBV 2019; DPtV 2021). In einer Studie von 2017 (n = 13.066) ist der Anteil an Personen, die Psychotherapie in Anspruch nehmen, mit 11,3% und 11,8% in West- bzw. Ostdeutschland nahezu identisch (Rommel et al. 2017). Gleichzeitig ist die Dichte der psychotherapeutischen Versorgung in den neuen Bundesländern durchweg niedriger als in den alten Bundesländern: In Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen variieren die Zahlen zwischen 16,4 bis 18,8 Therapeuten pro 100.000 Einwohnern. Im Vergleich dazu liegen zum Beispiel die Zahlen in Hessen und Nordrhein-Westfalen bei 35,0 und 31,4 Therapeuten pro 100.000 Einwohnern (DPtV 2017).

Auch die Bettendichte in Fachabteilungen für psychotherapeutische Medizin (pro 100.000 Einwohnern) ist in den alten Bundesländern im Vergleich zu den neuen Bundesländern fast doppelt so hoch (RKI 2008). Weiterhin sind die Wartezeiten auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch nach dem Saarland in Sachsen-Anhalt (16,6 Wochen), Niedersachsen (15,7 Wochen) und Mecklenburg-Vorpommern (15 Wochen) am höchsten (DPtV 2017). Peikert et al. (2011, 48) schreiben dazu:

»Aufgrund der historischen und geographischen Situation ist die psychotherapeutische Versorgungsdichte in Ostdeutschland im Durchschnitt geringer als in der übrigen Bundesrepublik. Dies geht über die Unterschiede hinaus, die aufgrund verschiedener Stadt-Land-Struktur zu erwarten wären, d.h., trotz der dynamischen Entwicklung in den letzten 20 Jahren muss hier ein Psychotherapeut mehr Einwohner versorgen«.

Auch angesichts der gegenwärtigen politischen Ereignisse – von den jüngsten Wahlergebnissen in Sachsen und Thüringen, bei denen die als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte AfD teils mehr als 30% der Stimmen erhielt, über den Bruch der deutschen Ampel-Koalition mit einem Austritt der FDP aus der Regierungsarbeit bis zur Wiederwahl des Republikaners Donald Trump zum Präsidenten der USA – erscheint es geboten, einen Moment innezuhalten und über die Entwicklung Deutschlands in den letzten 35 Jahren seit der Wiedervereinigung nachzudenken. Wir wollen – im Fluss der Geschichte treibend – die Vergangenheit nicht als bloße Chronik betrachten, sondern als Mahnung und Spiegel, in dem wir erkennen, dass Geschichte nicht nur auf fortschreitendem Wandel beruht, sondern auch auf der Wiederkehr alter Konflikte, Ideologien und Werte.

Den Vollzug von Perspektivwechseln bezeichnen Binswanger (1945), Sterba (1934), Fonagy et al. (2004, 48), Stolorow u. Atwood (1996) und Bohleber (2006) mit Begriffen wie Überstieg, therapeutische Ich-Spaltung, Mentalisierungsfähigkeit und Intersubjektivität. Wir können immer wieder versuchen, Prozesse, in die wir selbst involviert sind, zumindest partiell zu überblicken. Als beteiligte Autorinnen und Autoren im Zwischenraum zwischen Subjekt und anderen angesiedelt (Quindeau 2008), legen wir mit einer Auswahl an Beiträgen Zeugnisse über relativ kurz zurückliegende historische Ereignisse ab, wohlwissend, dass es unmöglich ist, den Gesamtvorgang umfassend zu beschreiben.

Diese allgemeinen Erkenntnisse gilt es für den Prozess der deutschen Einheit zu konkretisieren. Jeder und jede in unserem Land ist in diese dynamische Entwicklung involviert, selbst jene, die von sich behaupten, davon nicht betroffen zu sein. Die Erfahrungen sind zahllos und individuell und doch weisen sie in mancher Hinsicht Gemeinsamkeiten auf: sei es als ehemaliger Bürger eines der deutschen Staaten, als Vertreter verschiedener Generationen, als Akteur oder Betroffener, als Gewinner oder Verlierer, als Opfer oder Täter oder als vermeintlich unbeteiligte Person. Die Dynamik des radikalen Umbruchs und des erfolgreichen Neustarts stehen neben erregtem Stillstand, Scheitern, Stagnation, Regression, aber auch endlosem Bilanzieren. So liegt eine Zwischenbilanz zur Frage nahe, was die deutsche Einheit für ältere Menschen heute bedeutet. Skizzenhaft versuchen wir zu reflektieren, wie sich dieses historische Ereignis – die deutsche Einheit – auf die individuelle Psyche auswirkt. Wir möchten einen Beitrag leisten, damit Geschichte nicht nur als eine Faktenaufzählung historischer Großereignisse und als Heldentaten weniger Prominenter erscheint, sondern wir wollen den Fokus der Betrachtung auch auf einzelne Menschen in ihrer Zeit richten. Diese Betrachtung mit Fallgeschichten birgt die Möglichkeit, sowohl einen differenzierteren (Einzel-)Blick zu werfen als auch Initialzündung für weitergehende Forschungen zu sein. In den komprimierten Narrativen werden komplexe klinische Zusammenhänge mit ihrer unbewussten Dimension in Sprache gefasst. Diese erlebnisnahe Partizipation (Overbeck 1993) weist auf notwendige nachfolgende empirische Forschungen hin. Im Vorwort des vor kurzem erschienenen Buches Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht (Strauß et al. 2024) wird deutlich, dass die wissenschaftliche Bearbeitung, sei es mit empirischen Methoden oder aus Sicht der qualitativen Sozialforschung, noch in den Anfängen steckt. Somit besteht die Chance, dass hermeneutische und empirische Ansätze einander ergänzen.

Die deutsche Wiedervereinigung liegt bereits 35 Jahre zurück. Für ein Menschenleben ist dies eine lange Zeit. Wer damals jung war, ist heute im frühen Alter, wer im mittleren Lebensalter war, ist heute hochaltrig – viele der damaligen Zeitzeugen sind bereits verstorben.

Die deutsche Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete für viele Menschen in Ost und West eine tiefe Zäsur, insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer. Viele Ereignisse auf individueller und kollektiver Ebene wurden als traumatisch erlebt. Verarbeitungsmodi der Psyche sind langsam und zeitversetzt. Zu Traumata gehören typische Verarbeitungsmodi wie z.B. die traumatische Latenz (Fischer u. Riedesser 1999), in der Verdrängung und Verleugnung dominieren, und beredtes Schweigen, das uns im Sinne transgenerationaler Weitergabe (Bohleber 1997; Volkan 2000; von der Stein 2003; Kogan 2006) schon aus den vorangegangenen Ereignissen, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg, bekannt ist. Im unbewussten und bewussten Bezug auf die deutsche Teilung und Einheit wiederholen sich diese Mechanismen.

Heute ist zu erkennen, dass die literarische und wissenschaftliche Aufarbeitung, abgesehen von Einzelfällen, zeitlich verzögert erfolgt: So kam es erst in den 1960er und 1970er Jahren zur kasuistischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocausts und etwa ab den 1980er Jahren zur Bearbeitung der Folgen des Zweiten Weltkrieges für die deutsche Bevölkerung. Einzelfallkasuistiken und Zeitzeugenberichte gehen einer wissenschaftlich-systematischen Bearbeitung voraus. Man könnte nun meinen, aus den vorangegangenen Katastrophen gelernt zu haben und es jetzt mit den Folgen der deutschen Teilung und der DDR-Diktatur gewissenhafter anzugehen. Noch bis heute ist indes der Widerstand vieler Zeitzeugen spürbar, die ungern und nur zögerlich über ihre Erfahrungen sprechen wollen. Die Abwehrargumente, es hätte ja viele betroffen, sei deshalb nichts Besonderes und daher nicht berichtenswert, spiegelten sich auch im Vorfeld dieses Heftes: Einige angefragte Autoren und Autorinnen wollten ihre Erfahrungen nicht teilen, manche zogen eine Zusage zurück. Dankenswerterweise berichteten einige dann doch, trotz anfänglicher Ablehnung.

35 Jahre nach der friedlichen Revolution steht der Prozess der Aufarbeitung unseres Erachtens gerade am Beginn, auch wenn von offizieller Seite die gesellschaftliche Verpflichtung zur Würdigung des von vielen erlittenen Unrechts und der Schäden gefordert wird. Wie bei allen politischen Katastrophen gibt es Täter, Opfer und viele Menschen, die zwischen beiden stehen, und natürlich auch viele vermeintlich Unbeteiligte, die sich mit dem Leid der anderen nicht beschäftigen wollen. All das bietet reichlich Konfliktstoff in einer Gesellschaft, in der Erinnerungen getragen von Scham, Trauer, Schuld, Opportunismus, Anpassung, Rache und Neid zum Vorschein kommen.

Umso wichtiger ist es, Aussagen von Zeitzeugen zu sichern und diese aus psychoanalytischer und psychodynamischer Perspektive zu interpretieren. Die Gefahr besteht darin, bei konfliktreichen Themen polarisierte und emotionalisierte Positionen zu verlassen und stattdessen einen von Empathie und Mentalisierungsfähigkeit bestimmten Standpunkt einzunehmen, der immer auch die Perspektive des ganz anderen im Blick hat. Nicht nur zufällig ähnelt diese Gefahr dem Spaltungsagieren, das in allgemeinen Psychotherapien bei frühgestörten, traumatisierten und schuldhaft verstricken Patienten vorkommt.

Die Frage, inwieweit eine Nation kollektiv auch jenseits der realen Spaltung in Ost und West in paranoid-schizoiden Positionen verhaftet sein kann, stellt sich heute spätestens nach dem Wiedererstarken des Rechtsradikalismus in Deutschland. Spricht man von der Nation, kann man sich auch schnell in einer psychohistorischen Identitätsdebatte wiederfinden. Will man diese seriös führen, sollte der Blick auch auf die deutsche Historie vor dem Zweiten Weltkrieg gerichtet sein. Dazu gehört die Erkenntnis, dass der europäische und damit auch der deutsche Kulturraum schon seit der Völkerwanderung ein Übergangsraum war, in dem sich vieles vermischte, um dann zeitweise zu kultureller Blüte zu gelangen und sich dann wieder zu verändern. So weist der unreflektierte Begriff der »Biodeutschen«, der eine eindeutige genetische Abstammung der Deutschen zugrunde legt, auf eine biologistisch-nationalistische Erzählung hin, die jeglicher Realität entbehrt und in der NS-Zeit ihren destruktiven Höhepunkt hatte. Die Konsequenzen waren fatal. Die Völkerwanderung und ihre Folgen weisen eindeutig auf eine Vermischung der meisten heutigen Deutschen mit germanischen, romanischen und slawischen Völkern hin. Seit der Römerzeit gibt es im Gebiet des heutigen Deutschlands jüdische Gemeinden, im Mittelalter kam es durch die Besiedlung Osteuropas zur teils kriegerischen, teils friedlichen Integration vieler kleinerer Völker in den deutschen Kulturraum. Teilungen, Vermischungen, Abspaltungen und Assimilation haben die deutsche Geschichte seit jeher geprägt. Somit kann die Wiedervereinigung von BRD und DDR auch als eine fragmentarische Rekonstruktion der kleindeutschen Lösung, wie sie Bismarck in der Gründung des von Preußen dominierten Nationalstaates unter Ausschluss von Österreich-Ungarn umsetzte, eingeordnet werden. Für den Friedensprozess unabdinglich ist dabei die Anerkennung von Gebietsabtretungen in Ost und West nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Wer im Rahmen des neu erstarkten Rechtsradikalismus, wie z.B. die Reichsbürger-Bewegung, Deutschland wie zu Zeiten Wilhelms II. wiederherstellen will, reißt alte Wunden auf und befördert die Kriegsgefahr.

Nach diesem geschichtlichen Exkurs zurück zur deutschen Einheit von 1989 und zu skizzenhaften Hinweisen auf Konfliktlinien: Generell bestand und besteht die Gefahr, dass die gewaltsame deutsche Teilung, die SED-Diktatur, im Windschatten der größeren Katastrophen der NS-Diktatur, des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts weniger Beachtung findet und als das kleinere Übel abgetan wird, sodass Opfer von Repressionen und von Folgen der Teilung alleingelassen werden. Der Stasi-Terror hatte viele Schattierungen, die bis heute noch ans Licht kommen.

Viele Familien waren von der deutschen Teilung mittelbar und unmittelbar betroffen. Verwandte zwischen West und Ost hielten zwar Kontakt, doch waren Missverständnisse und Kränkungen oft unvermeidbar. Gleichzeitig treffen sie bis heute auf das Unverständnis mancher Zeitgenossen, oft in vierter Generation am gleichen Ort wohnend, die von der Teilung kaum berührt waren.

Auch gibt es bis heute viele Lebende, die als Parteigenossen und Stasi-Mitarbeiter an Repressionen beteiligt waren und jene, meist jüngere Alte, die zunächst systemkonform aufwuchsen, dann aber zunehmend mit dem System in Konflikt gerieten.

Schwer ist das Schicksal derer, die als Oppositionelle galten und zahlreichen Schikanen und Benachteiligungen ausgesetzt waren, denen zum Beispiel aufgrund der Herkunft aus bürgerlichem und christlichem Umfeld der Zugang zum Studium verwehrt wurde. Es gilt die Opfer der Zwangskollektivierung und Enteignungen zu würdigen, vor allem die an der deutsch-deutschen Grenze getötete Menschen.

Klischees und Vorurteile über »Ossis« und »Wessis« prägen bis heute die nicht immer sachliche Diskussion. Dazu gehören auch unausgesprochene Konflikte über Wohlstand und Versorgung in Familien, die während der Teilung schlecht zu klären waren, aber über die viele Beteiligte berichten. Nach 35 Jahren ist eine Entidealisierung des Einheitsprozesses eingetreten, der einerseits Enttäuschung und Verbitterung mit sich bringt, anderseits eine nüchterne Zwischenbilanz ermöglicht und die realen Chancen aufzeigt, die uns dieses historische Geschenk ermöglicht. Dabei werden aktuell die positiven Folgen und Chancen der deutschen Wiedervereinigung wie Demokratisierung, europäische Einigung und ökonomische Verbesserungen übersehen. Das hier vorliegende PiA-Heft soll im Blick auf die Würdigung der Lebensumstände der heute Älteren nach der deutschen Einheit ein Zwischenstand sein, der zur notwendigen weiteren Aufarbeitung motivieren soll.

Kontakt

Prof. Dr. med. Bertram von der Stein
Quettinghofstr. 10a
50769 Köln
E-Mail: Dr.von.der.Stein@netcologne.de

Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Jana Volkert-Laubach
Sektion Translationale Psychotherapie
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universität Ulm
Albert-Einstein-Allee 23
81093 Ulm
E-Mail: Jana.Volkert @uni-ulm.de

 

 

Betram von der Stein & Jana Volkert- Laubach: Editorial zum Themenheft

“35 Jahre deutsche Einheit”