2025 Heft 1: Eine Institution stellt sich vor

Sophie Geßner & Gabriele Wilz

»Offenes Ohr« für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz

In Deutschland sind aktuell etwa 1,8 Millionen Menschen von einer Demenzerkrankung betroffen (Blotenberg et al. 2023). Angesichts der zunehmend alternden Gesellschaft wird erwartet, dass im Jahr 2050 bereits 2,7 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland leben (GBD 2019 Dementia Forecasting Collaborators 2022). Überdies ist bekannt, dass Pflege im Allgemeinen zu großen Teilen in der Häuslichkeit durch Angehörige geleistet wird, mitunter auch ohne jegliche Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen (Schwinger et al. 2023). Aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes ist die Pflege eines Menschen mit Demenz mit vielfältigen Herausforderungen für die pflegenden Angehörigen verbunden. So benötigen Menschen mit Demenz intensive Unterstützung bei verschiedensten Aktivitäten des täglichen Lebens wie Ankleiden, Körperhygiene sowie Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, was dazu führt, dass pflegende Angehörige kontinuierlich gefordert sind (Amato et al. 2021). Neben dem fortwährenden Verlust kognitiver Fähigkeiten und den damit einhergehenden Einschränkungen in Alltagsaktivitäten können herausfordernde Erlebens- und Verhaltensweisen das Erkrankungsbild prägen. Hierzu zählen beispielsweise paranoide Ideen und Aggressivität, Halluzinationen und Agitiertheit, Ängste und Phobien sowie affektive Störungen (Sittler et al. 2020). Es zeigt sich, dass diese herausfordernden Erlebens- und Verhaltensweisen eine besondere Belastung für pflegende Angehörige darstellen und die Lebensqualität massiv beeinträchtigen können (Wilz et al. 2015; Wilz 2024). Vor dem Hintergrund des hohen Belastungserlebens stellt sich die Frage, wie pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz unterstützt werden können, um die eigene körperliche sowie psychische Gesundheit zu erhalten und die Qualität der Pflege sicherzustellen.

Die Arbeitsgruppe der Abteilung klinisch-psychologische Intervention der Universität Jena unter Leitung von Frau Professorin Gabriele Wilz beschäftigt sich seit nunmehr vielen Jahren mit dieser Fragestellung und stellt hierbei das Potenzial psychotherapeutischer Interventionen (Wilz u. Pfeiffer 2017) heraus. Vor dem Hintergrund der oft eingeschränkten Mobilität und zeitlichen Verfügbarkeit pflegender Angehöriger hat sich vor allem die Durchführung telefonischer Psychotherapie als hilfreiche und wirksame Methode erwiesen, um sowohl kurzfristig (Wilz et al. 2018) als auch langfristig (Töpfer et al. 2021) das Bewältigungsverhalten und das Wohlbefinden von pflegenden Angehörigen zu verbessern. Aus den Erfahrungen der zahlreichen Psychotherapiestudien sowie der Anbindung an die Ambulanz für Forschung und Lehre mit Schwerpunkt für Psychotherapie im höheren Lebensalter ergab sich Anfang des Jahres 2024 die Idee, ein dauerhaftes Unterstützungsangebot für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz zu etablieren – das »Offene Ohr«.

Beim »Offenen Ohr« handelt es sich um ein kostenfreies telefonisches Gesprächsangebot für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz, die aus Thüringen beziehungsweise dem Großraum Mitteldeutschland kommen. Die Telefonate werden von klinisch erfahrenen Psychologinnen oder Psychotherapeutinnen geführt und dauern in der Regel zwischen 25 und 50 Minuten. Aktuell hält das »Offene Ohr« zweimal wöchentlich (montags 10–12 Uhr und mittwochs 14–16 Uhr) Sprechzeiten vor, in denen pflegende Angehörige die psychologische Unterstützung nutzen können. Nach einer kurzen Vorstellung der beratenden Person und der Rahmenbedingungen des Unterstützungsangebots wird zunächst die derzeitige Pflegesituation (Wer wird gepflegt? Was sind die Pflegeanforderungen? In welcher Form erhalten pflegende Angehörige Unterstützung?) erfasst. Weiterführend wird ein spezifisches Anliegen für das Gespräch herausgearbeitet. Je nach Art des Anliegens werden unterschiedliche Gesprächsführungstechniken sowie konkrete psychotherapeutische Methoden genutzt.

Die von den Angehörigen thematisierten Anliegen erweisen sich als äußerst vielfältig und hochindividuell. Häufig werden Alltagssituationen beschrieben, die mit Fortschreiten der Erkrankung für die Menschen mit Demenz und die pflegenden Angehörigen schwieriger zu bewältigen sind. Beispielsweise berichtete ein pflegender Ehemann, der das Angebot des »Offenen Ohrs« nutzte, dass seine an Demenz erkrankte Ehefrau zunehmend Unterstützung beim Toilettengang benötige, sich jedoch gegen Hilfestellungen verbal und körperlich wehre. Er wünsche sich, dass sie kooperationsbereiter werde, weil aktuell jeder Toilettengang mit Anspannung und Ärger verbunden sei. Der pflegende Angehörige ging in diesem Fall davon aus, dass seine Ehefrau die Unterstützung aus »Trotz« verweigere (»Sie will einfach nicht mitmachen«). Die Beraterin brachte zunächst Verständnis für die äußerst schwierige Situation zum Ausdruck und validierte den pflegenden Ehemann für seine bisherige Lösungsversuche. Daraufhin stellte sie in den Raum, ob es noch anderweitige Erklärungen für das Verhalten der Ehefrau geben könnte. Gemeinsam wurden neben »Trotz« noch »Angst« und »Scham« als mögliche Auslöser der Verweigerungsreaktion gesammelt und daraufhin alternative verhaltensbezogene Strategien erarbeitet. Der Ehemann hielt abschließend fest: »Bis jetzt habe ich es nie so gesehen, dass es für sie unangenehm sein könnte. Ich werde mehr Entspannung in die Situation bringen, in dem ich ruhiger und behutsamer vorgehe und sie so gut wie möglich mitmachen lasse.«

In den telefonischen Gesprächen wird immer wieder deutlich, dass pflegende Angehörige tagtäglich mit hochkomplexen Situationen konfrontiert sind und häufig hohe Ansprüche an die eigene Bewältigung dieser Situationen stellen. Die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten (Pflegedienste, Tagespflegeeinrichtungen, Betreuungsangebote u.a.) ist wiederum vielfach mit Schuld- und Schamgefühlen besetzt. Insgesamt führt das dazu, dass pflegende Angehörige kaum Zeit und Kraft für die Verwirklichung eigener Interessen finden und das Belastungserleben weiter ansteigt. Aus diesem Grund ist Ressourcenaktivierung auf der einen und das Hinterfragen dysfunktionaler Gedanken bezüglich der Inanspruchnahme von Unterstützung auf der anderen Seite ein wichtiger Teil der Gespräche im Rahmen des »Offenen Ohrs«.

Wenn im Laufe der Gespräche deutlich wird, dass weiterführende psychotherapeutische Unterstützung aufgrund eines hohen Belastungserlebens notwendig ist, wird die Empfehlung einer ambulanten Psychotherapie durch die Beraterinnen ausgesprochen. Für Anrufende aus der Region Jena können in der Ambulanz für Forschung und Lehre kurzfristig Sprechstundentermine und damit eine anknüpfende Unterstützung ermöglicht werden.

Bisher erweist sich das »Offene Ohr« als ein gut umsetzbares Angebot, das auf die Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen zugeschnitten ist. Eine pflegende Tochter fasst am Ende des Gesprächs zusammen: »Irgendwie hat es mir geholfen, dass ich Sie nicht kenne, Sie mich nicht sehen und auch ich Sie während des Gesprächs nicht sehen kann – das senkt für mich die Hemmschwelle anzurufen und von meinen tatsächlichen Sorgen zu berichten.«

Kontakt

Sophie Geßner
Abteilung Klinisch-Psychologische Intervention
Institut für Psychologie
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Humboldtstraße 11
07743 Jena
E-Mail: sophie.gessner@uni-jena.de